Was ist eine Plattform? – Ein Neuanfang

Vor ein paar Tagen habe ich zusammen mit Sebastian Gießmann auf der re:publica einen Talk gehalten. Der Titel war „Von der Netzwerk- zur PLattformgesellschaft„. Neben vielen neuen Gedanken zu Plattformen und ihrer Rolle in unserer Gesellschaft habe ich mich auch an einer neuen Plattformdefinition versucht, die aber in der Kürze der Zeit etwas unterbelichtet blieb. Eine genauere Definition plus Erklärung will ich hier nachliefern. Aber ersteinmal der Talk:

Selektion(-Entscheidung/-Option/-Prozess)
Selektion bedeutet schlicht: so und nicht anders. Aus einem Raum an Möglichkeiten (Kontingenz) wird sich auf eine der Möglichkeiten (Selektionsoption) festgelegt (Selektionsentscheidung). Akkumulierte Selektionsentscheidungen können die anschließenden Selektionsoptionen so weit eingrenzen, dass wir von einem definierten Selektionsprozess (oder Schnittstelle) sprechen können.

Plattformen
Plattformen sind solche akkumulierten Selektionsentscheidungen, die für viele Interaktionsteilnemer/innen kohärente Selektionsprozesse bereitstellen (entweder durch zentrale Steuerung oder protokollarische Festlegung), um die Anschlussfähigkeit weiterer Selektionen zu ermöglichen.

Netzwerkeffekte
Die Plattform generiert Netzwerkeffekte in dem Maße, wie die vorgegebenen, kohärenten Sekektionsprozesse für möglichst viele Interaktionsteilnehmer/innen Selektionsoptionen eröffnet.

Netzwerk und Plattform
Netzwerk und Plattform sind keine sich ausschließenden Konzepte. Im Gegenteil. Plattformen ermöglichen Netzwerke, indem sie die Interoperabilität der Teilnehmer erst bewerkstelligen. Das gilt für das Internet genauso, wie für Facebook.

Spielen wir das mal anhand der Vortragsbeispiele durch:

Schon das Telefon, indem es seriell baugleich hergestellt wird, bildet eine Plattform. Die Art es zu benutzen und die Möglichkeiten es anzuschließen sind durch Selektionsentscheidungen festgelegte Selektionsprozesse. Auch die Leitungen und der Betrieb gehören dazu: Welches Material darf für den Draht verwendet werden, welche Spannung wird angelegt, in welcher Frequenz wird moduliert, etc. All diese Dinge sind Selektionsentscheidungen, die einmal getroffen wurden und kohärent im „System Telefon“ eingearbeitet sind und so enggefasste Prozesse vorgeben. Innerhalb dieser enggefassten Prozesse entstehen aber neue Selektionsoptionen, die ohne Plattform nicht existieren würden: z.B. Telefone zu verschalten.

Diese neuen Selektionsoptionen sind: Welches Telefon wird mit welchem Telefon verbunden? Oder: An welches Netz schließe ich das Telefon an? Oder tue ich das überhaupt? Wichtig: diese Selektionsoptionen werden durch die vorherigen Selektionsentscheidungen erst ermöglicht. Genau das meinen wir mit Plattform.

Und wenn wir ein verknüpftes Telefonnetz haben, dann haben wir – klar ein Netzwerk. Dieses Netzwerk steht aber nicht für sich, sondern hat seine Plattform in den bereits besprochenen Selektionsentscheidungen und jede/r, der/die die Selektionsprozesse der Plattform erfüllt, kann Teil des Netzwerkes werden. Die Plattform wird zur Zugangsberechtigung des Netzwerkes.

Und jetzt machen wir eine Iteration: Denn das fertige Telefonnetzwerk ist nicht nur ein Netzwerk, sondern bildet mit seinen immanenten Selektionsentscheidungen wiederum die Plattform für weitere Selektionsentscheidungen.

Bleiben wir vorerst bei den Partylines (also alle Telefone sind direkt miteinander verschaltet). Dann ergibt sich für mich die Selektionoption, mich durch das Aufnehmen des Hörers in die Leitung zu begeben, oder eben nicht. Bei der zweiteren Selektion bleibt das Netzwerk latent, also eine reine Selektionsoption. Das Netzwerk wird erst aktuell, wenn ich tatsächlich mich mit den anderen Teilnehmer/innen in der Partyline verschalte.

Komplizierter wird das noch mit den Einszueins-Verbindungen, die dann über die Switchboards und den Telefonistinnen organisiert wird. Diese Verschaltung (also die Selektionsleistung) bedarf einer vergleichsweise komplizierten Logik. Sie wird zentral organisiert, weswegen wir es hier (lange vor Facebook) mit einer zentral gesteuerten Plattform zu tun haben. Zunächst bleiben die Selektionsprozesse physisch erlebbar, weil sie offen prozessiert werden.

Die Legende geht, dass die Nichtneutralität dieser Selektionsprozesse durch die Telefonistinnen zur Entwicklung der mechanischen Hebdrehschaltung geführt hat. Dessen Erfinder, der Bestattungsunternehmer Almon Brown Strowger aus Kansas City, wurde bei der Verbindung in Todesfällen gegenüber einem anderen Bestattungsunternehmer, der Verbindungen in die Telefonzentrale hatte angeblich systematisch diskriminiert. (die Anekdote ist aber fraglich.)

Zusammenfassend: Die Plattform besteht nun aus einem ganzen Zoo von Selektionsentscheidungen, die jeweils aufeinander beruhen. Von der Bauart des Telefons, über die Beschaffenheit und Betrieb des Netzes, über Verschaltung der physischen Leitungen, bishin zur verschaltenden zentralintelligenz der Telefonistinnen an ihren Switchboards (und später ihrer mechanischen Substitution).

Machen wir zum Gegencheck einen kurzen Sprung ins Internet. Hier haben wir ebenfalls auf einander aufbauende Selektionsentscheidungen, die in ihrer Komplexität und Reichhaltigkeit allerdings die Telefonnetze weit in den Schatten stellen. So kann man jeden einzelnen Layer im Netzwerkmodell (wir nehmen hier nicht OSI, sondern orientieren uns am viertstufigen Aufbau) als Plattform verstehen. Wir haben da den physischen Layer, der das basale Funktionieren der Datenverbindung bereitstellt. Die dort getroffenen Selektionsentscheidungen geben die Prozesse vor, auf denen das Internet Protokoll (IP) seine eigenen Selektionsprozesse fahren kann. Und so geht das weiter. TCP arbeitet auf den von IP bereitgestellten Prozessen, um die Paketdistribution und Logistik zu organisieren und die Applikationen arbeiten wiederum auf den Prozessen die TCP ihnen zur Verfügung stellt und machen, was sie eben machen. Jeder Layer wird durch den vorherigen ermöglicht, bildet also dessen Plattform. Und das geht weit über die Protokollebene hinaus. Das WWW hat das Internet zur Plattform und Facebook hat das WWW zur Plattform.

Bleiben wir kurz bei Facebook, denn Facebook ist natürlich Prototyp eines bestimmten, (scheinbar) neuen Paradigmas der Plattform. Es stellt nämlich die Kohärenz seiner Selektionsprozesse nicht durch verabredete Standards fest, sondern organisiert sie über eine zentrale Datenbank. All ihre Selektionsentscheidungen werden in Datentabellen gespeichert und bei Bedarf durch komplexe Querystatements reaktualisiert. Ich nenne solche Plattformen deswegen auch querybasierte Plattformen. Wenn wir genauer hinschauen, ist die querybasierte Plattform aber überhaupt nichts Neues, sondern in ihrer basalen Form bereits durch die Telefonistinnen an den Switchboards gegeben (es wird wirklich Zeit den Begriff der Query neu auszuarbeiten). Warum diese Form der Plattform sehr erfolgreich ist, hat viele Gründe, auf die ich jetzt aber nicht eingehen will.

Wir haben gesehen, dass die Plattformdefinition sowohl auf das Telefonnetz, das Internet und seinen Protokollschichten, als auch auf Facebook & co anwendbar sind. Testen wir zum Schluss noch einmal unseren Plattformbegriff auf ihre ursprüngliche Definition (jedenfalls eine davon):

„Plattform f. begrenzte, erhöhte Fläche, Fundament, Aussichtsterrasse, Plateau, vom gleichbedeutend französisch plate-forme, […] in der Sprache der zivilen und militärischen Baukunst. Die Bezeichnung wird besonders im Festungsbau für flaches Bollwerk, starkes Fundament für Wurfgeschütze gebräuchlich (17. Jahr.), […]“

(Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. Erarbeitet unter der Leitung von Wolfgang Pfeifer, S. 1018)

Das hört sich erstmal sehr fern unserer Definition an, ist es aber nicht. All die genannten Eigenschaften treffen zu. Jede zu Grunde liegende Selektionsentscheidung „erhöht“ die Plattform und hebt sie heraus aus der Kontingenz. Die Plattform ist hier wie dort „begrenzt“ und vor allem ist sie „flach“. Flach ist unserer Plattformbegriff dort, wo wir von Kohärenz sprechen. Die Fläche ist eine in sich kohärente (wenn auch basale) Selektionsentscheidung. Und hier können wir ein wenig spekulieren: Wie in unserer Definition hat die Pattform im Original zur Folge, dass die dort plazierten Wurfgeschosse schnell austauschbar sind, sowohl untereinander als auch generell. Weil sie alle auf derselben Höhe operieren, können sie – jedenfalls wenn sie baugleich sind – auch gleichförmig eingestellt und ausgerichtet werden. Schon die frühste Idee von Plattform sollte also Interoperabilität bewerkstelligen.

Aber wenn denn nun Plattformen gar kein neues Ding sind, warum sollen wir dann jetzt von der Plattformgesellschaft reden?

Die Plattform war immer die implizite Grundlage – weil organisatorische Bedingung – des Netzwerkes und damit der Netzwerkgesellschaft. So lange diese Grundlagen (und ihre bürokratische Arbeit, wie wir im Vortrag sagen) einfach still vorsichhin-funktionieren, sind sie für unsere Wahrnehmung quasi unsichtbar. Jetzt aber, da die Kohärenz ihrer Selektionsprozesse in Gefahr ist (Netzneutralität), sich bestimmte Plattformverschiebungen ereignen (Appstore vs. Open Web) und auf der anderen Seite die mächtigen zentralistischen Query-Plattformplayer empor steigen, werden diese Grundlagen sichtbar und (teils) bedrohlich.

Was mich zu einer letzten These verleitet: Während Netzwerke durch ihr Funktionieren beobachtbar sind, sind Plattformen nur in ihrem Nichtfunktionieren beobachtbar; also z.B. dort, wo die Kohärenz gebrochen wird.

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9 Kommentare zu Was ist eine Plattform? – Ein Neuanfang

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