Ich war gerade eine knappe Woche paddeln. Wir fuhren mit einem Kanadier Kanu namens „Kirschkuchen“ auf der mecklenburgischen Seenplatte herum und ich war dabei meist der Steuermann – also derjenige, der hinten paddelt. Es war nicht das erste Mal, dass mir beim Paddeln diese Aufgabe zuteil wurde, aber sie eine so lange Zeit auszuführen, ermöglichte mir, meine Steuerkompetenzen auszubauen und sie gleichzeitig zu reflektieren.
Denn natürlich passiert dabei immer mal wieder ein Kontrollverlust, oder sagen wir besser „ein Steuerungsverlust“. Kontrolle und Steuerung sind im englischen ein Wort (control) und tatsächlich spricht wenig dagegen, Kontrolle und Steuerung synonym zu verwenden. Deswegen will meine gewonnenen Erfahrungen nutzen, um ein wenig über den Steuerungsverlust nachzudenken.
Zunächst einmal ist „steuern“ eine Tätigkeit, von der wir eine ziemlich verzerrte Vorstellung haben. Wir sind gewohnt, dass Steuerung direkt passiert, so wir es beim Auto- oder Fahrradfahren gewohnt sind. Man lenkt etwas nach links, das Fahrzeug bewegt sich entsprechend, man lenkt nach rechts, etc. Das ist aber keinesfalls die Standardsituation des Steuerns, vielmehr überlagert die überlegene Steuerbarkeit unserer Alltagsfahrzeuge genau das, worauf es beim Steuern überhaupt ankommt.
Beim Paddeln hat man noch ein sehr elementares Steuererlebnis. Jeder Paddelschlag hat eine steuernde Wirkung. Abhängig davon, ob ich ihn rechts oder links vom Kanu mache, bewegt sich das Kanu in die entsprechende Richtung. Die Steuerwirkung ist allerdings sehr gering und setzt nur verzögert ein. Wenn man hinten paddelt ist die Steuerwirkung deutlich stärker als vorn, weswegen hinten eben die natürliche Steuerposition ist. Jedoch steuert der Paddelschlag vorne auch.
Das hat einige Konsequenzen, bzw. erlaubt Erkenntnisse über das Steuern an sich:
1. Steuern heißt Planen. Die minimale und verzögerte Steuerwirkung hat zunächst einmal die Konsequenz, dass man sehr vorausschauend fahren muss. Scharfe Kurven sind eine ziemliche Herausforderung und schon leichte Anpassungsmanöver müssen mehrere Sekunden im Voraus eingeleitet worden sein.
2. Steuern ist ein bisschen wie Politik. Andere als die eigenen Steuerkräfte kommen deutlicher zum Tragen. Die eigene Trägheit der Massen schiebt einen, auf dem Wasser gibt es Strömungen, der Wind kann einen ganz schön ärgern und natürlich kommt immer die Steuerwirkung des Vordermannes zum Tragen. Auf dem Boot heißt Steuern also mehr das Dirigieren eines vielstimmigen Orchesters, bei dem einige der Musiker aber nicht auf einen hören. Man steuert immer mit und man steuert immer gegen bestimmte Kräfte, die als heterogene Vektoren ein vielstimmiges Mitreden haben. Die Kunst besteht darin, diese Kräfte zu spüren, sie einigermaßen einzuschätzen und die eigene Steuerkraft so einzusetzen, dass die Kräfte, die gegen einen steuern, nicht größer sind als die eigene Steuerkraft. Im Zweifelsfall bedeutet es auch Koalitionen zu bilden mit anderen externen Steuerkräften, die mehr im eigene Sinne steuern.
3. … was dann eben auch den Steuerungsverlust definiert, als den Punkt, wo die externen Steuerkräfte, die gegen einen arbeiten, die eigenen Steuerkräfte übersteigen. Der Steuerungsverlust kann zwei Ursachen haben. Erstens: Man wird von einer neuen, unbekannten Steuerkraft überrumpelt, oder hat sie falsch eingeschätzt oder sie ändert ihre Richtung, etc. Oder zweitens: die eigene Steuerkraft kommt einem Abhanden. Das Paddel bricht oder man verliert es. (Letzteres ist uns zum Glück nicht passiert, ersteres jedoch öfter.)
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Beziehen wir die Erkenntnisse zurück auf den informationellen Kontrollverlust, wird dadurch einiges klarer: Die Digitalisierung hat zweifelsohne die vorhandenen, externen Steuerkräfte durcheinandergewirbelt. Gleichzeitig hat es die zur Verfügung stehenden Steuermechanismen unterminiert.
Die leichte Kopierbarkeit und Distribuierbarkeit hat sich zum Beispiel für die Musikindustrie angefühlt, als würde plötzlich das Wasser jeglichen Widerstand verlieren. Alles kann sich darin auf einmal widerstandslos bewegen, was einerseits toll ist. Gleichzeitig wird aber auch das Paddel nutzlos, weil es jegliche Antriebs- und Steuerkraft verliert. Das Paddel wären hier Vertriebsstrukturen und -Prozesse, die auf einmal im Leeren ruderten.
Die Privatsphäre hingegen sah sich mit völlig neuen Strömungen konfrontiert. Allgegenwärtige Sensoren, Kamerahandys, Locationdienste und dergleichen waren zur Entstehung des Datenschutzes nicht vorgesehen. Gegen diese neue, enorme Steuerkraft konnte der Datenschutz nicht an und so trieb das Boot immer weiter und immer schneller weg vom eigentlichen Ziel der Informationellen Selbstbestimmung. Mit Big Data und Machine Learning pusten weitere starke Steuerkräfte als Böen gegen die Fahrtrichtung. Zwar gibt es mit immer neuen kryptografischen Verfahren durchaus einen Vordermann, der im Zweifel auf der eigenen Seite mitpaddelt, jedoch scheint auch der nicht stark genug zu sein, um den Trend umzukehren. Das Datenschutzpaddel ist ins Wasser gefallen.
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An der Müritz haben wir uns nach den Steuerungsverlusten immer wieder gefangen. Meist habe ich die Situation einfach neu bewertet, die neuen Steuerungskräfte mit in die Rechnung aufgenommen und mein Steuern entsprechend angepasst. Wäre mein Paddel weggewesen, hätte ich mir ein neues besorgt. So hat auch die Welt auch auf den informationellen Kontrollverlust reagiert. Sie hat neue Institutionen geschaffen, die neue Steuerungssituationen etabliert haben: die Plattformen.
Plattformen können als künstlich beruhigte Gewässer innerhalb des stürmischen Ozeans Internet verstanden werden. Es sind sowas wie private Enklaven und so ist man Tributpflichtig, aber man findet dafür einigermaßen handhabbare Steuerungsumgebungen vor. Plattformen sind im Gegensatz zu klassichen Institutionen selbst keine Steuerungseinheiten, sondern durch geschlossenheit beruhigte Zonen, in denen externe Steuerungskräfte nicht sehr dazwischenfunken können. Sie geben meist aber auch eigene, auf ihre Umgebung optimierte Paddel heraus, die nur innerhalb der Enklave funktionieren. Sie steuern nicht (oder nur wenig), sondern bieten vor allem Steuerkraft, so lange man sich in ihren Gebieten bewegt.
Der Sturm da draußen wird indessen immer heftiger, immer mehr Steuer versagen den Dienst. Immer mehr Plattformen gründen sich und die bestehenden Plattformen werden immer größer und mächtiger. Irgendwann wird es keine Boote mehr im offenen Meer geben, weil alle nur noch innerhalb der Plattformen paddeln. Das ist sicher nicht befriedigend, aber es funktioniert.
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