Es ist vielleicht ein guter Zeitpunkt, in die aktuelle Tagespolitik zu schauen, um festzustellen wie weit der Kontrollverlust durch das Internet im politischen Geschehen gediehen ist. Die Netzsperrendebatte hat nämlich vor allem eines gezeigt: mit dem Netz als politischen Faktor ist zu rechnen. Was bisher nur für die so genannte „Netzpolitik“ galt, wird sich auf alle Politikfelder ausweiten. Der Einfluss des Netzes wird nicht auf solche Themen beschränken bleiben, denn die Diskurse im Netz sind so vielfältig, wie die aller Stammtische zusammen genommen. Mindestens.
Köhler.
Das Heute-Journal des ZDF kam im Nachgang des Rücktritts des Bundespräsidenten mit einer Räuberpistole heraus, die zu denken gibt: „Haben Blogger Köhler zu Fall gebracht?“ fragten die Redakteure.
Alles fing mit einem Interview an, das Köhler am 22. Mai mit dem Deutschlandfunk geführt hatte und bei dem er unter anderem sagte:
„Meine Einschätzung ist aber, dass insgesamt, wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe, mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit, auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall, auch militärischer Einsatz notwendig ist um unsere Interessen zu wahren. Zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen, negativ, durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen. Alles das soll diskutiert werden und ich glaube wir sind auf einem nicht so schlechten Weg.“
Das Blog „unpolitik“, dem die Aussagen als erstes komisch vor kamen, fragte daraufhin: „Wirklich, Herr Köhler? Öffentlich zur Durchsetzung wirtschaftlicher Ziele durch militärische Gewalt aufrufen?“ Der Blogeintrag rief viele Reaktionen in der Blogosphäre hervor und wurde viel verlinkt.
Aber bleiben wir kurz mal auf dem Teppich. Natürlich waren es nicht Blogger, die den politischen Druck aufgebaut haben, dem sich Köhler nach eigenem Befinden nicht mehr gewachsen sah. Es waren die Journalisten, die das Thema an die Öffentlichkeit gebracht haben und es waren die Politiker, die Köhler mit öffentlichen Äußerungen in Bedrängnis brachten. Blogger haben keine Reichweite, sie haben keine Macht. Nicht, wenn man sie mit den anderen Funktionsträgern und Institutionen vergleicht.
Nun kann man unterschiedlicher Auffassung darüber sein, wie man die Äußerungen des Bundespräsidenten im Interview bewerten kann. Die Frage, ob es legitim ist, was der Bundespräsident dort erzählt, ist zumindest brisant, aber sie liegt schon auf der Hand. Das Grundgesetz ist eindeutig dabei, wofür unsere Bundeswehr einzusetzen ist (Verteidigungsfall) und wozu nicht (alles andere). Wenn ein Bundespräsident eine Debatte darüber fordert, die Bundeswehr auch für Wirtschaftsinteressen kämpfen zu lassen, dann kann man zu dieser Frage so oder so stehen, aber in jedem Fall ist das eine wichtige Meldung. Zu wichtig vielleicht, als dass sich jemand mit ihr zu befassen traute. Hey, das ist immerhin der Bundespräsident!
Blogger kennen diese Fallhöhe nicht. Blogger meinen fröhlich in der Gegend herum, egal, ob es sich um Lieschen Müller oder den Bundespräsidenten handelt. Respekt vor dem Amt haben die Blogger – sollte Köhler sie in seiner grimmigen Rede gemeint haben (hat er mit Sicherheit nicht) – nämlich tatsächlich nicht. Das macht aber ihre Stärke aus. Sie verarbeiten Information blitzschnell zu Meinungen und ordnen alles ihrer persönlichen Sichtweise gemäß ein. Das, was manche den Bloggern als Mangel von Distanz und Objektivität auslegen, ist genau ihre Stärke. Sie ordnen schnell, sie ordnen vorschnell, aber sie ordnen auch dort, wo sonst niemand ordnet.
Niklas Luhmann definierte die Einordbarkeit von Information als ihre „Anschlussfähigkeit„. Eine Information ist erst dann eine Information, wenn sie A) das System irritiert – also eine tatsächliche Veränderung/Differenz ist und wenn sie B) „anschlußfähig“ ist und zwar zu bereits vorhandenen Informationen. Ein Umstand, den Gregory Bateson noch vor Luhmann so ausdrückte: „Eine Information ist ein Unterschied, der einen Unterschied macht.“
Das Bewerkstelligen von Anschlussfähigkeit der Information gehört genauso zum Beruf des Journalisten, wie ihre Beschaffung, denn eine nicht eingeordnete Information ist keine. Genau bei dieser Aufgabe, machen die Blogger den Journalisten aber auch am erfolgreichsten Konkurrenz. Klar, wird man zu jeder relevanten Nachricht ein paar hundert unterschiedliche Einordnungen der Blogger finden, von denen der Großteil langweilig weil bekannt und der andere vollkommener Quatsch ist. Ein paar der Einordnungen werden aber in einem quasidarwinistischen Verfahren durch Verlinkung und Zitation nach oben gespült. Diese Beschäftigung mit dem Köhlerzitat war so ein Beispiel.
Als nach fünf Tagen und etlichen Leserbriefen das Deutschlandradio selber nochmal aktiv wurde, sprang auch Spiegel Online auf. Die anderen folgten auf dem Fuß. Und erst dann kam die Debatte in der Politik an. Niemand weiß, ob sie ohne die Einordnung durch die Blogger dort je dort angekommen wäre. Man darf das aber bezweifeln.
Von der Leyen.
Die zweite schöne Verschwörungstheorie, die man derzeit häufiger liest, lautet: die Blogger hätten von der Leyen als Kandidatin verhindert. Vorweg: Niemand weiß, wer oder was von der Leyen verhindert hat, außer von der Leyen und Frau Merkel. (Okay, die Sueddeutsche gibt vor es zu wissen, kann aber auch keine Quellen nennen) Die Blogger waren es aber sicher genau so wenig, wie sie Köhler bezwungen haben. Und vielleicht auch genau so viel: nämlich über Bande.
Zu von der Leyens Denominierung gibt es verschiedene Theorien. Eine feministische wird andauernd kolportiert: den Männern in der CDU waren zwei Frauen an der Spitze zu viel. Eine weitere aber war, dass sich die FDP gegen von der Leyen gestellt habe. Jürgen Koppelins, Bundestagsfraktionsvize der FDP hatte die Ablehnung der FDP damit begründet, sie sei für die jüngere Generation ein „Antityp“ und hatte sich damit auf die Netzsperrendebatte bezogen.
In der Tat haben sich im Netz – kaum hatten sich die Gerüchte um die Nominierung von der Leyens verdichtet – spontan einige Aktionen gebildet. Die „Not my President“-Facebookgruppe wuchs innerhalb weniger Stunden in fünfstellige Bereiche, es wurden Petitionen vorbereitet und T-Shirts gedruckt. Das Netz machte in beängstigendem Tempo gegen die alte Feindin mobil. Die FDP könnte also tatsächlich Angst davor gehabt haben, sich diesen kampagnenfähigen Mob aus dem Netz zum Feind zu machen und das, wo man doch gerade erst auf Tuchfühlung gehen wollte.
Gauck.
Was der wirkliche Grund für die Verhinderung von der Leyens ist, werden wir vorerst sicher nicht erfahren. Aber es ist interessant, wie sich die Geschichte weiter fortsetzt. Nachdem sich nach Leyens Rückpfiff der blasse Wulff unsanft ins Rennen gedrängelt hat, brachte nämlich Rot-Grün Joachim Gauck auf’s Tapet. Und es scheint ihnen dabei ein Kunststück gelungen zu sein.
Gauck scheint das Unmögliche zu schaffen. Er bringt konservative Leitartikler genau so wie die Netzszene in’s Schwärmen. Der SPIEGEL, die FAZ, und Bild am Sonntag waren sich so schnell einig, als hätten sie sich abgesprochen: Gauck sei der bessere Präsident titelten sie – (nebenbei: ein direkter Affront gegen Merkel).
Zur selben Zeit bläst Felix Schwenzel im Netz für Gauck in die Fanfare und Nico Lumma hat eine Unterschriftenliste aufgesetzt. Mathias Richel richtete mein-praesident.de ein, eine eigene Kampagnenwebsite für Gauck. Thomas Pfeiffer startete unterdessen eine symbolische Twitteraktion – „mygauck“ – die rasend schnell ihr Ergebnis brachte. (Jedes Pixel des Gauckportraits entspricht dem Twitterbild eines Twitternutzers, der sich offen für Gauck ausgesprochen hat.)
Die deutsche Presse und die Internetszene werden sich die nächsten Tage sicherlich noch befruchten – es besteht Aufschaukelungsgefahr. Das alles sollte Merkel und Wulff zu denken geben: nichts ist mehr sicher, der Kontrollverlust droht. Und neben der Kampagnenmacht der großen Blätter wird das Netz dabei keineswegs unwichtig sein. Sie geben dem Gauck-Anliegen einen grassrootsbewegungsmäßigen Heiligenschein, eine Volksbewegung, der sich viele Abgeordnete nicht verschließen werden können. Es wird auf jeden Fall spannend.
Aber auch etwas anderes ist klar: falls Gauck es schaffen sollte, werden ihn natürlich nicht die Blogger in’s Amt gehievt haben – jedenfalls nicht allein.
(Original erschienen auf der Website von FAZ.net)