Ich unterbreche nur ungern die Reihe „Managing CTRL-Verlust„, aber für eine wichtige Sondermeldung muss das sein.
Heute sind zwei von einander unabhängige Artikel erschienen, die sich beide ziemlich zielgenau mit den hier behandelten Themen auseinander setzen.
Kathrin Passig hat in einer Kolumne in der Onlineausgabe des Merkurs genau jenen Paradigmenwechsel anhand einiger Beispiele der jüngeren Zeit durch dekliniert, den ich hier konkret mit der Erfindung der relationalen Datenbank verbunden und analysiert habe. Die Verschiebung der Relevanz vom Autor zum Empfänger.
Ihr Augenmerk richtet sich dabei auf personalisierte Empfehlungssyteme und des durch sie in der Abschaffung befindlichen Mainstreams. Die besten als Kategorie gibt es nicht mehr, es gibt sinnvoller Weise nur noch einen individuellen Zugang und individuelle Präferenzen gegenüber den Dingen. Das ist natürlich auch eine knallharte Absage an den Journalismus als Gatekeeper:
„Es gibt diese allgemeingültige Rangreihenfolge nicht, und dass Redaktionen eine Weile so tun durften, als gebe es sie, beruhte auf einem Mangel an besseren Lösungen, der mittlerweile behoben ist.“
Da ist sie natürlich extrem nah dran, an dem, was ich „Distributed Reality“ genannt habe und ich sogar ähnlich mit der Zwecklosigkeit eines „allgemeinen Blicks“ auf Twitter habe zeigen wollen. Wir bekommen heute die Tools in die Hand, uns unsere Weltperzeption individuell zusammen zu stellen. Warum sollen wir uns dann noch auf eine Verkaufschartliste einigen? Und warum überhaupt einigen?
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Der zweite bemerkenswerte Text ist von dem hier häufig zitierten Christian Heller. Er schließt praktisch nahtlos an das von Kathrin Passig ausgearbeitete Paradigma an.
Der Text beginnt mit der Erzählung von Jorge Luis Borges „Die Bibliothek von Babel“ in der die Menschheit mit einer Bibliothek konfrontiert ist, in der alle möglichen Texte, also Texte jeder mathematisch möglichen Zeichenkombination, gleichberechtigt nebeneinander stehen.
Heller hält das – zumindest langfristig – für ein passendes Bild des Internets. Anhand einiger Diskussionen zu Trollerein auf der re:publica erarbeitet er, warum sich die Verantwortung des Autors für die ihm zugemutete Lektüre – zumindest zum Teil – zum Leser hin verschiebt. In einer Bibliothek von Babel macht es keinen Sinn, sich durch Worte angegriffen fühlen, es sei denn, man entschließt sich dazu.
„Das Nadelöhr der Auswahl ist nicht mehr der Entstehung und Veröffentlichung vorgeschaltet, sondern der Lektüre. Wir Leser selbst lernen Sortieren, Bewerten, Filtern.“
Hier kehrt die Macht der Filtersysteme, wie sie Kathrin Passig beschrieben hat, als Verantwortung des Lesers zurück. Wenn es einerseits keine objektiven Kriterien mehr gibt, anhand dessen ich einen Text beurteilen kann, sondern stattdessen ein persönliches Filtersystem unterhalte, dass mir meine Welt als „Distributet Reality“ gestaltet – und wenn gleichzeitig die Masse an Information zu einer Bibliothek von Babel reift, in der jede mögliche Zeichenkombination um sich schlägt, dann kehrt sich das ganze Autor/Leser, Sender/Empfänger-Gefüge um. Und zwar in Sachen Macht genau so, wie in Sachen Verantwortung.
Und schon haben wir einen erneuten Reentry der relationalen Datenbank als Blaupause der Realitätskonstruktion:
„In Abwandlung von Marshall McLuhans Satz “the medium is the message” (”das Medium ist die Botschaft”) müssen wir im Internet “the query is the message” sagen: Die Anfrage ist die Botschaft. Ich kann mit Suchmaschinen jeden beliebigen Nonsens finden; die Kunst besteht darin, die Suchanfrage so zu formulieren, dass sie Sinn erzeugt.“
Was wir also brauchen, sind laut Heller „Ressourcen der Ignoranz„. Leider wird der Text ausgerechnet hier unscharf. Zwar gibt es die angesprochenen Filtersysteme und sie werden immer mächtiger, doch auch Heller weiß, dass sie nicht für alles eine Lösung sein können. Doch was muss noch dazu kommen? Einerseits sei – laut Heller – die geforderte Fähigkeit zur Ignoranz eine Medientechnik, die erlernbar sei, andererseits sei die Ungleichverteilung dieser Ressource derzeit nicht lösbar und auch langfristig ein Problem. Was denn nun?
Die Fähigkeit zur Ignoranz und die mit ihr zu verknüpfende Macht, seine Realität zu gestalten, habe ich im Text „Identität im Zeitalter ihrer technischen Ignorierbarkeit“ bereits angesprochen. Dazu gehört nämlich mehr als nur ein paar ausgefeilte Tools und ein bisschen Übung. Die Machtverhältnisse sind derzeit noch so, dass wir durchaus reale Konsequenzen von unangenehmen Texten erwarten dürfen. Sowohl bei denen, die wir produzieren (Privacy), als auch bei denen, die wir lesen (z.B. Morddrohungen, Verleumdungen).
Insgesamt lassen sich also durchaus einige Fragen anknüpfen, wie mit den neuen Situationen – die ich allesamt unter meinen Titel „CTRL-Verlust“ subsummieren möchte – umzugehen ist. Es sind in erster Linie auch ethische Fragen und Fragen der politischen Machbarkeit. Zum Beispiel Fragen nach einer neuen Solidarität, die auch Heller in seinem Text anschneidet. Die Reihe „Managing CTRL-Verlust“ ist der – zugegeben etwas angestrengte – Versuch, diese Fragen zu formulieren. Ich hoffe immer noch, dass mir das – wenigstens in Grundzügen – gelingt.
(Original erschienen auf der Website von FAZ.net)