Heute erscheint mein neues Buch, Die Macht der Plattformen. Wie mein erstes Buch, basiert es in vielerlei Hinsicht auf den in diesem Blog entwickelten Thesen.
Die Kernthese des Buches ist, dass eine spezifische Form der Macht gibt, die ich Plattformmacht nenne und die ich in dem Buch im Detail analysiere. Plattformmacht besteht aus zwei Teilen: Netzwerkmacht und Kontrolle. Die Kontrolle wiederum kommt als unterschiedliche Hebel daher, die ich im 4. Kapitel darstelle. Unter diesen sechs Kontrollregimes findet sich zum Beispiel die Kontrolle des Zugangs zur Plattform (Zugangsregime), die Kontrolle über die Sichtbarkeit von Dingen auf der Plattform via Algorithmen (Queryregime), das Interfaceregime, das Verbindungsregime und so weiter. Das erste Regime, dass ich bespreche, ist das Infrastrukturregime. Der hier veröffentlichte Auszug aus dem Buch stellt es vor:
Das Infrastrukturregime
2014 gibt Facebook bekannt, über 50 neue Geschlechterkategorien im Registrierungsprozess einzuführen.1 Das Medienecho ist riesig. Egal, ob die jeweiligen Kommentator*innen den Schritt begrüßen oder problematisieren, wird er doch allgemein als ein einschneidendes Ereignis gelesen. Und zwar zu Recht.
Denn digitale Infrastrukturen prägen Gesellschaften. Das gilt nicht nur für die Geschlechterfrage. Das größte soziale Netzwerk strukturiert mit seinen Kategorien und Klassifikationen unseren kulturellen Kosmos ganz entscheidend mit. Egal, ob »es ist kompliziert« als Beziehungsstatus oder das »Like« als Geste der Zustimmung, Facebooks Designentscheidungen haben einen Einfluss darauf, wie wir denken, handeln und kommunizieren – auf Facebook, aber auch außerhalb. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs.
Das Internet ist voll mit Standards und Klassifikationen, die unser Leben regieren. Ein Beispiel ist das Domain Name System (DNS). Es sorgt dafür, dass wir in die Browser-Adressleiste Domains wie spiegel.de oder facebook.com eingeben können statt die Zahlen einer IP-Adresse. Schon zu ARPANET-Zeiten wollten sich die Menschen keine numerischen Adressen merken, sondern lieber Namen. Eine Frau namens Elisabeth Feinler entwickelte und pflegte zu diesem Zweck ein öffentliches Verzeichnis, indem sie in einer Datei auf ihrem Computer den numerischen Adressen Namen zuordnete und die Datei über das ARPANET abrufbar machte.2 Ihre Institution nannte sie bald NIC (Network Information Center) und siedelte sie bei ihrem Arbeitgeber, dem Stanford Research Institut (SRI) in Kalifornien, an. Feinler richtete darüber hinaus den ersten Whois-Dienst ein, eine öffentliche Datenbank, in der man Informationen über die Betreiber von ARPANET-Knoten abfragen kann. Bis heute ist Whois ein wichtiger Dienst, der Auskunft über Domainbetreiber*innen liefert. Feinler war es schließlich auch, die die Idee für die sogenannten Top-Level-Domains einbrachte wie .de, .edu, .com etc. Damit waren bereits alle Grundsteine für das DNS gelegt.
Als in den 1980er Jahren das ARPANET auf das Internet umgeschaltet wurde, stellte sich Feinlers System allerdings als zu unflexibel und zu hierarchisch heraus, um beim rasanten Wachstum des Netzes mitzuhalten. 1983 veröffentlichte die Internet Engineering Task Force (ein Gremium, das regelmäßig über neue Netzwerkstandards befindet) Richtlinien zur Entwicklung des DNS. 1984 wurde es zum ersten Mal implementiert: auf einem Unix-System an der Universität Berkeley.
Das System sollte aus verteilten Name-Servern bestehen, die von der Top-Level-Domain abwärts Domains IP-Adressen zuordnen. Jede Domain hat einen Namensraum, der dann wiederum in Namensräume unterteilt werden kann. Der Betreiber der .de- Domain (in dem Fall DENIC) registriert zum Beispiel alle Domains, die auf .de enden, wie spiegel.de oder mspr0.de. Die Domain-Inhaber haben ihrerseits die Möglichkeit, Subdomains einzurichten, wie content.spiegel.de etc.
Obwohl das System von Anfang an international angelegt war, konnten Domains jahrzehntelang nur ohne sprachspezifische Sonderzeichen angemeldet werden. Das hat einen einfachen Grund: DNS basiert auf einem limitierten Zeichensatz, der Umlaute und andere Sprachelemente nicht enthält. Seit 2009 kann das System zwar auch Umlautdomains verarbeiten, doch weil man sich nicht überall auf die korrekte Implementierung des jeweiligen Zeichen- satzes verlassen kann, bleibt es bis heute eher eine theoretische Option, die nur wenig genutzt wird. Die Priorisierung des englischen Sprachraums und seines eingeschränkten Zeichensatzes ist in der Infrastruktur von DNS – und vielen anderen Systemen – quasi eingebacken.
Infrastrukturen sind ineinander verschränkte Erwartungserwartungen. Es sind die akkumulierten Standards, Vorselektionen, Pfadentscheidungen, Klassifikationssysteme, die Plattformen strukturieren und damit vorgeben, wie wir mit ihnen interagieren. Susan Leigh Star hat zusammen mit Geoffrey C. Bowker in Sorting Things out – Classification and Its Consequences einen Infrastrukturbegriff konzipiert, der genau diese Art von Regime gut auf den Punkt bringt.3 Infrastruktur weist unter anderem folgende Eigenschaften auf:
- Infrastruktur ist eingebettet in andere soziale, technische und wirtschaftliche Strukturen.
- Infrastruktur ist transparent in dem Sinne, dass sie zwar zur Verfügung steht, wenn auf sie zurückgegriffen wird (sonst müsste man sie ständig neu erfinden), aber in ihrer unterstützenden Wirkung unterhalb der Wahrnehmungsschwelle bleibt.
- Die Benutzung von Infrastruktur wird gelernt, aber es wird verlernt, dass sie gelernt wurde. Sie erscheint ihren Benutzer*innen dadurch »natürlich« in der Handhabung.
- Infrastruktur steht in einem wechselseitigen Beeinflussungsverhältnis mit den Konventionen ihrer Benutzer*innen. Die Konventionen verändern die Infrastruktur, und die Infrastruktur beeinflusst Konventionen.
- Infrastruktur basiert auf anderer Infrastruktur und »erbt« deren Limitierungen und Eigenschaften.
- Infrastruktur wird nur sichtbar, wenn sie zusammenbricht.
- Infrastruktur ist träge und lässt sich nur langsam, lokal und inkrementell ändern, niemals global und ad hoc.
Wie wir in Kapitel 2 gezeigt haben, sind Plattformen einander Infrastruktur, wobei Infrastruktur in unserem Sinne die Gesamtheit der Plattformen ist, auf der eine andere Plattform oder eine konkrete Verbindung aufsetzt. Alle Plattformen basieren auf Infrastruktur, und alle Plattformen sind wiederum Infrastruktur – weswegen alle Plattformen ein Infrastrukturregime implementieren. Infrastruktur kontrolliert auf subtile, aber sehr grundlegende Weise unsere Handlungen und übernimmt die Vorselektionen der Infrastruktur, auf der sie selbst basiert, und reicht sie nach oben durch.
Dass in Domainnamen lange keine Umlaute oder sonstige nicht englische Buchstaben verwendet werden konnten, liegt zum Beispiel am ASCII-Standard. ASCII (American Standard Code for Information Interchange) gibt einen Satz von 128 Zeichen als Standard vor, der universal für beinah alle Computer der Welt interpretierbar ist. Dazu gehören das lateinische Alphabet in großen und kleinen Buchstaben, die Zahlen von 0 bis 9 und einige Satz-, Sonder- und Steuerzeichen. ASCII wurde in den 1960er Jahren von der American Standards Association entwickelt. Danach breitete es sich zunächst als Standardzeichensatz für Unix-Systeme aus und wurde in Computern aller Art auf sehr tiefer Ebene implementiert. Nach Grewal kann man sagen, dass ASCII zumindest im Computerbereich den Schwellenwert der Universalität erreicht hat. Fast alle Internet-Standard-Spezifikationen setzen ASCII voraus – so auch DNS. ASCII ist also Teil der Infrastruktur von DNS.
Doch in seinem Design ist ASCII alles andere als universell. Es ist speziell für die englische Sprache optimiert und kann fremdsprachige Sonderzeichen wie unser »ö« oder »ß« oder gar ganz andere Zeichensysteme wie Mandarin, Kyrillisch oder Sanskrit-Dialekte lediglich über komplizierte Umwege abbilden.
Wenn ein Infrastrukturregime nur mit genügend Netzwerkmacht ausgestattet ist, wird es hegemonial im Gramsci’schen Sinn. So wird aus einer unbedachten Designentscheidung aus den 1960er Jahren ein Kulturdeterminismus, der sich bis heute in der Technologie fortpflanzt und sich der ganzen Welt aufzwingt. Manche gehen so weit, von einem ASCII-Imperialismus zu sprechen.4
Dabei muss das Infrastrukturregime seine Lenkungswirkung gar nicht intendieren. Die Designentscheidungen in Infrastrukturen sind oft einfach Resultat nicht hinterfragter Anschauungen und Wertvorstellungen. Sie sind sedimentierte gesellschaftliche Diskurse und eingelassene Vorurteile, doch nichtsdestotrotz oder gerade deswegen sind sie hochpolitisch.
Als nach und nach die Beschränktheit von ASCII überwunden wurde und Anfang der 1990er mit dem neuen Standard Unicode größere Zeichensätze in vielen Betriebssystemen implementiert wurden, blieben auch hier die eingebackenen Pfadentscheidungen unbedacht. Als Anfang der 2010er Jahre aus Japan der Trend zu kleinen zeichenbasierten Emotionsbildchen – sogenannten Emojis – in westliche Betriebssysteme schwappte, wiederholte sich die Geschichte. Wie Kate M. Miltner in ihrer Studie zur Einführung von Emojis durch Unicode 7 nachweist, waren die begleitenden Diskurse ignorant gegenüber der Wichtigkeit von ethnischer Repräsentation, weswegen das originale Emoji-Set – bis auf zwei Ausnahmen – nur weiße Emojis enthielt.5
Alle Plattformarten implementieren Klassifikationen und Standards auf die ein oder andere Art. Auch Protokolle brauchen definierte Zustände und valide geformte Anfragen. In diese Festlegungen fließen viele Vorannahmen ein. Wie lange muss ein Netzwerkteilnehmer auf eine Antwort warten, bis es ein Time-out gibt? Wie lang ist eine »normale« Nachricht, welches Schriftsystem soll verwendet werden? Wie wird auf Unvorhergesehenes reagiert? Für all diese Festlegungen lassen sich völlig unpolitische und politisch problematische Fälle denken. Und doch werden auf jeden Fall die Aktionsmöglichkeiten von Nutzer*innen in Bahnen geleitet und in bestimmten Fällen konkret eingeschränkt.
Die Einführung der 50plus Geschlechter durch Facebook 2014 ist genau deswegen so stark diskutiert worden, weil hier eine Infrastrukturentscheidung eben nicht implizit war, sondern explizit gemacht wurde. Da die Macht des Infrastrukturregimes ständig droht, in Vergessenheit zu geraten, ist es umso wichtiger, immer wieder an sie zu erinnern.
Fußnoten
- Bernd Matthies: Mann, Frau und die 50 anderen, https://www.faz.net/aktuell/ gesellschaft/geschlechter-liste-alle-verschiedenen-geschlechter-und-gender- arten-bei-facebook-13135140.html 16. 02. 2014. ↩
- Cade Metz: Before Google and GoDaddy, There Was Elizabeth Feinler, https:// www.wired.com/2012/06/elizabeth-jake-feinler/, 18. 06. 2012. ↩
- Susan Leigh Star, Geoffrey C. Bowker: Sorting Things out – Classification and Its Consequences, Cambridge 2000. ↩
- Vgl. Daniel Pargman, Jacob Palme: ASCII Imperialism, in: Martha Lampland, Susan Leigh Star: Standards and Their Stories – How Quantifying, Classifying, and Formalizing Shape Every Day Life, Cornell 2009, S. 177–199. ↩
- Kate M. Miltner: »One part politics, one part technology, one part history«: Racial representation in the Unicode 7.0 emoji set, https://journals.sagepub.com/ eprint/EBZICCFWSDHSXFIIXYZJ/full#articleCitationDownloadContainer, Januar 2020. ↩