Christian Stöcker hat kürzlich auf Spiegel Online eine Horrorvision eines zukünftigen Internets an die Wand gemalt. Im Gegensatz zu jenen, die meinen, dass das Internet vor allem als anarchischer, unkontrollierbarer Raum aufzufassen sei (also zum Beispiel ich), zeigt er gekonnt, wie die digitalen Technologien in Wirklichkeit ein enormes Kontrollpotential haben:
„Es gibt eben doch einen zentralen Unterschied zwischen der realen Welt und der digitalen. Im Netz ist absolute Rechtsdurchsetzung möglich.“
Das kommt dem Raunen Deleuzes sehr nah, der durch die Computer die „Kontrollgesellschaft“ am Horizont zu erkennen glaubte, die die Foucaultsche Disziplinargesellschaft ablösen würde.
Ohne, dass ich Christian Stöcker oder Deleuze wirklich eine technische Argumentation entgegenhalten könnte, möchte ich an dieser Stelle meinen unerschütterlichen Glauben ausdrücken, dass dem nicht so kommt. Ja, ich glaube an den Kontrollverlust, und nein, ich glaube nicht an die Kontrollgesellschaft. Ich spreche von „Glauben“, denn ich bin mir bewusst, dass meine Zuversicht auf Annahmen fußt, die wahrscheinlich nicht beweisbar sind, die aber unerschütterlich zu meinen Glaubenssätzen gehören und aus denen sich sowohl meine Zuversicht für die Zukunft, als auch meine vermeintliche „Radikalität“ speisen.
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Es ist mittlerweile nicht mehr strittig, dass sich gesellschaftlich einiges ändern wird durch das Internet. Aber für die Frage, wie sie sich ändern wird, ist es ratsam, nicht auf das Internet zu schauen, sondern darauf, wie sich die Gesellschaft schon immer verändert hat. Denn das hat sie.
Sie ist von der Stammesgesellschaft über die frühen Hochkulturen, über die feudale Ständegesellschaft zur Bürgerlichen Gesellschaft erwachsen. Und bei all diesen Veränderungsprüngen lässt sich zumindest eines feststellen: die Organisationsform der Gesellschaft ist jedes mal komplexer geworden.
Dieser Drang Richtung Komplexität ist nicht nur ein gesellschaftliches Phänomen. Er lässt sich auch zum Beispiel in der Evolution selbst beobachten. Von den Aminosäuren zu den Proteinen, zu den Einzellern, zu den Amöben, zu den Krustentieren, zu den Fischen, zu den Dinosauriern, zu den Säugetieren, zu dem Menschen ist eine stete Zunahme an Komplexität feststellbar. Kevin Kelly nimmt noch die Entwicklung der Technologie seit der Menschheitsgeschichte hinzu und nennt diesen Drang Richtung Komplexität „Extropie“ und stellt sie der „Entropie“ entgegen.
Und ja, hier kann ich es ja sagen, ich glaube daran. Ich glaube an den Drang der Welt, sich zur immer komplexestmöglichen Ordnung zu organisieren. Das hier ist mein Bekenntnis. Amen.
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Dirk Baecker hat die oben skizzierten Evolutionsstufen der Gesellschaft ebenfalls als Ausgangspunkt genommen und sie den jeweiligen Medienrevolutionen zugeordnet. Die Sprache erschuf die Stammesgesellschaft, die Schrift die frühen Hochkulturen, der Buchdruck die moderne Gesellschaft. Der Computer/das Internet sind nun dabei die – er nennt es – „nächste Gesellschaft“ zu formen.
Das Aufkommen der neuen Medien zu der jeweils entsprechenden Zeit nennt er „Katastrophe„. Katastrophen nämlich in dem Sinne, dass völlig neue Möglichkeiten der Kommunikation in eine Gesellschaft traten, die darauf noch gar nicht vorbereitet war. Mit den Medien treten neue und vor allem viel mehr Kommunikationen auf Jahrhunderte oder Jahrtausende tradierte Strukturen, die mit der neuen Komplexität einfach überfordert sind. Mit anderen Worten: die Gesellschaft musste sich ob dieser Komplexitätsdiskrepanz jedes mal reorganisieren.
Als Extropianer wende ich aber schon an dieser Stelle ein: die Gesellschaft wollte sich neu organsisieren, sie wollte jedes mal komplexer werden, sobald sie die Möglichkeit dazu hatte. Und was diesem Wandel im Weg stand, wurde – mal mehr, mal minder rücksichtslos – weggefegt. Die Magie durch die Schrift, der Adel durch den Buchdruck, etc.
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Wenn wir nun das Internet, also die massenhaft verschalteten Computer und was sie heute bereits tun besehen, dann kann man erkennen, dass sie vor allem einen Unterschied machen: Sie schaffen es, selbst die komplexesten Organisationsprozesse in sich abzubilden. Mit dem Internet und dem Computer kann man besser, schneller und vor allem Transaktionskostenärmer sein Leben organisieren. Man kann besser einkaufen, eine Wohnung suchen, einen Termin finden, gemeinsam Konzepte erarbeiten, Leute einladen, einen Sexualpartner finden, Demos organisieren, Texte, Musik, Filme etc. produzieren und vor allem auch verteilen. Und wer weiß, was da alles noch kommt, wir stehen ja bekanntlich noch am Anfang.
Wir, die Heutigen, sind nun also dran, diesem Füllhorn an neuen Möglichkeiten zur komplexeren Organisation der Gesellschaft gerecht zu werden. Das ist – pathetisch gesagt – die Aufgabe unserer Generation. Und ich weiß nicht, wie Euch es geht, aber ich will es! Ich spüre es! Ich spüre, dass ein riesiges Maß an zusätzlicher Komplexität möglich ist und unausgeschöpft vor uns liegt. Und es nervt mich, wenn ich auf unnötig ineffiziente Strukturen treffe, wenn nicht alles auf Knopfdruck funktioniert, obwohl ich weiß, dass es das tun könnte, wenn ich keine Serie laden darf, obwohl es so einfach wäre und ich bin genervt davon, dass man über meinen Kopf hinweg bestimmt, wie mit dem Autobahnausbau zu verfahren ist, obwohl es heute Mittel und Wege gäbe, mich und jeden anderen dazu zu befragen und mit einzubeziehen. Die Zukunft ist da und niemand hebt sie auf. Es ist die Extropie, die wie ein kleiner Mann in meinem Kopf wohnt und randaliert und mich unzufrieden werden lässt, wenn ich sehe, wie die tatsächliche Organisation von Gesellschaft mit der möglichen Organisation von Gesellschaft so weit auseinanderfällt. Deswegen prophezeie ich: wie werden uns als Gesellschaft entsprechend der neuen Rahmenbedingungen neu organisieren und zwar kom.plexest.möglich.
- Wir werden mehr Demokratie fordern, mehr Mitbestimmung von mehr Menschen an mehr Entscheidungen.
- Wir werden mehr Transparenz leben, werden immer mehr Privatheit (was vor allem auch ein Tool der Komplexitätsreduktion war) aufgeben.
- Wir werden das Urheberrecht abschaffen (eine unnötige Erhöhung von Transaktionskosten).
- Wir werden allerlei Institutionen abschaffen und/oder marginalisieren (wahrscheinlich sogar den Staat.).
- Wir werden vielleicht sogar Eigentum abschaffen, sobald wir rausfinden, dass es keinen organisatorischen Mehrwert mehr bringt.
- Wir werden die Infrastrukturen so organisieren, dass sie Diversität zulassen.
- Wir werden viel mehr unterschiedliche Meinungen, Lebensentwürfe, Sexualitäten, Beziehungsformen zulassen. Müssen!
Warum? Weil wir es können!
Post-Privacy, Post-Eigentum, Post-National, Post-allesmögliche. Wir werden alle komplexitätsreduzierenden Mechanismen, Strukturen, Institutionen und Gesetze auf den Prüfstand stellen und was der Komplexität im Weg steht, was unnötiger Ballast ist oder Transaktionkosten künstlich erhöht, wird abgeschafft werden.
Kurz: Wir werden mehr Komplexität wagen!
Die Piraten haben das erkannt und die etablierten Parteien und Journalisten verstehen es immer noch nicht: sie fragen ständig nach den Inhalten, dabei geht doch um die Strukturen. Es geht um die Organisation, es geht um die Infrastruktur. Bov Bjerg nannte die Piraten mal spöttisch die Schweinesytemadministratoren. Ja, sie sind die Systemadministratoren der neuen Demokratie, da hat er vollkommen recht, aber er versteht nicht – trotz McLuhan, trotz Strukturalismus und Poststrukturalismus – dass die Struktur eben nicht egal ist, sondern essentiell. Das Schweinesystem wird nach der Administration nie wieder das selbe Schweinesystem sein. The Medium is the Message – die Infrastruktur ist politisch, stupid! (Achtung: es ist natürlich gut, dass sie es nicht verstehen. Würden sie es verstehen, würden sie viel hysterischer auf die Piraten reagieren.)
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Die Idee der Kontrollgesellschaft geht zu sehr von einer starren gesellschaftlichen Realität des Jetzt aus und schaut, wie sich die neuen Tools des Digitalen zur Durchsetzung der vorhandenen Strukturen einsetzen lassen. Ich hingegen glaube, dass sich die Gesellschaft und ihre Strukturen schneller ändern, als dass die heutigen Eliten das Kontrollpotential auch nur annähernd ausschöpfen können.
Aber keine Frage: wir sind mitten in diesem Umwälzungsprozess. Und ja, es gibt die Kräfte, von denen Chistian Stöcker spricht durchaus und in Syrien und China und Iran, etc. kann man auch schon ansatzweise sehen, wie weit die Kontrolle schon heute gehen kann. Und ACTA, SOPA, PIPA, die VDS und Internetsperren und alles was noch so kommt, wird weiterhin unsere volle Aufmerksamkeit erfordern. Aber in Wirklichkeit sind es nur die sich gegen ihr Überflüssigwerden aufbäumenden Institutionen, denen früher oder später von der Gesellschaft ihre Existenzlegitimationen entzogen wird.
Gewinnen können sie nicht. Ich weiß, dass sich die Komplexität durchsetzen wird, weil sie es immer getan hat. Das ist oft nicht unblutig geschehen und eventuell werden auch wir noch eine unruhige, vielleicht sogar schwere Phase durchleben. Vielleicht gibt es tatsächlich noch den einen oder anderen Rückschritt, das will ich gar nicht bezweifeln. Ich weiß auch noch nicht, von welchem Zeithorizont wir hier sprechen. Vom Buchdruck bis zur Französischen Revolution waren es 300 Jahre. So lange wird es nicht dauern, aber 20 bis 30 Jahre mit Sicherheit.
Am Ende aber, da bin ich mir sicher, steht die nächste Gesellschaft, die auf einem völlig neuen, wahnwitzig hohen Komplexitätsniveau organisiert sein wird. Und in dessen Komplexität man eine Freiheit verspüren kann, die heute noch nicht vorstellbar ist.
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