Letztens bin ich wieder über den „Skandal“ um Daniel Cohn-Bendits Äußerungen gestoßen, die er 1975 in seinem Buch „Der große Basar“ über die Sexualität von Kindern gemacht hatte. In dem Buch findet sich die Schilderung von erotischen Erlebnissen, die er angeblich als Betreuer in einem alternativen Kindergarten hatte. Später hat er diese Passagen als rein provokative Erfindung abgetan. (Die provokative Koketterie mit pädophilen Gefühlen war damals im Rahmen der „Sexuellen Revolution“ nicht unüblich)
Als die Aussagen gemacht wurden, waren sie ohne Frage eine Provokation. Sicher rüttelten sie auch an einem Tabu. Skandalisierungsfähig waren sie allerdings nicht. Das Buch, in dem sie geäußert wurden, wurde prominent besprochen, auch und gerade vom konservativ-bürgerlichen Lager. Und der Aufschrei war groß – wegen vieler Passagen, Werte und politischen Bekenntnissen – aber nicht wegen des Absatzes zur kindlichen Sexualität.
Es sollte fast 30 Jahre dauern, nämlich bis 2001, als diese Worte wieder herausgekramt wurden und der Skandal losbrach. Cohn-Bendit hatte allerlei zu tun, sich vom Verdacht des Kindesmißbrauchs freizuschwimmen. (Es gelang vor allem durch die bezeugenden Stellungnahmen der damaligen Eltern und den von ihm betreuten Kindern.)
Es ist interessant, wie diese ganz speziefische Form des Kontrollverlusts verlief. Ein Kontrollverlust passiert ja in der Regel, wenn eine Information aus dem „gemeinten“ Kontext ausbricht und sich in anderen verselbständigt. Das passiert auch hier. Allerdings findet hier die Kontextverschiebung nicht zwischen Kommunikationsräumen statt, sondern durch einen zeitlich fortschreitenden Wertewandel. Die Aussagen warteten wie eine Zeitkapsel darauf, zur richtigen Zeit wieder ausgegraben zu werden.
Wir leben heute in anderen Zeiten, mit anderen Werten. Ein Roman wie „Lolita“ würde heute nicht mehr verlegt werden und eine Band wie die Scorpions würden keine Plattencover mehr mit nackten zehnjährigen Mädchen veröffentlichen.
Kein noch so provokanter Politiker würde heute noch mit pädophilen Gefühlen kokettieren. („Ich hab doch nur recherchiert!„)
Auf einmal wird eine Aussage, die in einem anderen kulturellen, moralischen Bezugsrahmen – aber durchaus öffentlich – geäußert wurde, viele Jahre später zum echten Problem und hängt dem Autor nun an.
Es ist also genau die Situation, vor der uns die Datenschützer immer warnen. Diese Kontextverschiebung kann schließlich im Kleinen wie im Großen stattfinden. Das, was Jugendliche vermeintlich zu ihren Freunden auf Facebook sagen, wird vielleicht viele Jahre später den konservativen Personalchef erreichen. Oder eine völlig andere, derzeit in jeder hinsicht unproblematische Aussage kann – wenn sich der Wind dreht, der Diskurs sich verschiebt oder gar ein neuer Totalitarismus auf dem Plan tritt – zum existentiellen Problem werden. Nichts ist vor dem Kontrollverlust der Kontextverschiebung sicher.
Die zentralste Erzählung hierzu ist der Datenstaat der Nazis. Es ist zweifellos richtig, dass die Nazis die ersten waren, die mithilfe neuster Informationstechnologie (Hollerithmaschinen) operierten und sogar den Holocaust damit organisierten. Dabei boten besetzte Länder dem oftmals Vorschub, weil auch sie bereits Zensus-Daten gesammelt hatten, oft mit Angabe der Religionszugehörigkeit ihrer Einwohner. Wie praktisch für die Nazis! Eine Information, die wahrscheinlich nicht in böser Absicht gespeichert wird, kann – sobald die Gesellschaft einen radikalen Wandel vollzieht – zum Todesurteil werden.
Die Erkenntnis die der Datenschutz unter anderem aus diesen Erfahrungen ableitet ist die sogenannte „Datensparsamkeit“. Behörden, Unternehmen und überhaupt alle Institutionen, die mit Daten operieren, sollen nur das wirklich Notwendigste speichern und möglichst auch nur, solange die Daten wirklich gebraucht werden.
Nun bin ich letztens über einen interessanten Link gestolpert. Apple Hides How White It Is. Der Artikel beginnt mit:
„A discussion about race in Silicon Valley has to start with the facts, facts the federal government already collects and many companies openly share. But Apple simply doesn’t want data about its racial makeup publicized, by anyone.“
Apple (aber nicht nur Apple) behauptet, dass sie die Information welcher „Ethnie“ ihre Mitarbeiter entstammen, nicht erfassen. Rasse spielt für sie keine Rolle, sagen sie. Apple will also verbergen wie stark der strukturelle Rassismus bei ihnen am Werke ist – also wie stark Weiße bevorzugt werden, so die Kritiker.
[Hier bitte eine dramatische Pause denken]
Man stelle sich kurz vor, ein großes Deutsches Unternehmen käme auf die Idee „Rasse“ als Merkmal in den Mitarbeiterakten zu führen … Ich denke, der Sturm der Entrüstung wäre kaum vorstellbar. Peter Schaar und Thilo Weichert würden den nationalen Notstand ausrufen und Frank Rieger ginge in den Untergrund.
Lassen wir das aber zunächst mal so stehen und schauen auf ein anderes Beispiel das sehr verwandt, uns aber deutlich näher ist: Die Piratenpartei und die Genderfrage.
Die Piraten agrumentieren wie Apple, wenn sie sagen, „bei uns spielt das Geschlecht keine Rolle„, deswegen wird es auch konsequenter Weise nicht in den Mitgliederdaten vermerkt – datensparsam, wie man ist. Die Piraten kämpfen sogar dafür, dass auch auf Meldeämtern das Geschlecht nicht miterfasst wird. Postgender und Datenschutz spazieren hier Hand in Hand.
Die Argumentation, mit der Apple in den Staaten angegangen wird ist nun folgende: Wenn die „Rasse“ nicht erfasst wird, wenn es also keine Daten darüber gibt, wie und in welchem Umfang Menschen mit bestimmter Hautfarbe diskriminiert werden, können wir Rassismus auch nicht bekämpfen. Analog verläuft die Kritik an der Postgenderidee der Piraten: wenn man die Relevanz von „Geschlecht“ leugnet, wird man – sprichwörtlich – blind gegenüber den strukturellen Benachteilung von Frauen. Und tatsächlich: ob die Piratenpartei wirklich ein „Frauenproblem“ hat und wie stark es ist und wie genau es sich ausdrückt (bspw. Frauen in Ämtern/Frauen in der Partei), kann nicht abschließend beantwortet werden, solange die Piraten diese Daten nicht erheben.
Die oben genannte Kontextverschiebung hat also wiedermal zugeschlagen – nur in die völlig andere Richtung. Emanzipative, antirassistische und feministische Kräfte brauchen die Daten, um gegen Rassismus und Sexismus kämpfen zu können.
Ich glaube, wir können aus diesen immer wieder verwirrenderen Ambivalenzen zumindest zwei Lehren ziehen:
1. Der Kontext kann sich immer verschieben. Wir wissen aber niemals welcher Kontext und in welche Richtung. Der Kontrollverlust besagt, dass wir nicht wissen können, was morgen Daten sein werden. Es ist also auch möglich, dass die Öffentlichkeit ganz neue Intoleranzen hervorbringt, die vollkommen unvorhergesehene Kontextverschiebungen verursachen. Keine Aussage kann als sicher gelten. Die einzig gangbare Lösung wäre das Ende der öffentlichen Äußerung, also das vorauseilende Ducken gegenüber jeder möglichen, vielleicht hereinbrechenden Intoleranz. Ich denke aber kaum, dass das erstrebenswert ist, jedenfalls für die meisten Nichtdatenschützer.
2. Die Kontextverschiebung kann sogar so weit gehen, dass die Daten, die heute noch als gefährliches Diskriminierungspotential erachtet werden, morgen dazu genutzt werden, Diskriminierung aufzudenken, sichtbar zu machen und so effektiver zu bekämpfen.
Fazit
Daten sind nicht ansich böse, ihre jeweilige Verwendung kann es sein. Der ewige Verweis auf die Nazis mit ihren Hollerithmaschinen bringt uns nicht weiter. Es waren Menschen, die getötet haben, nicht die Daten. Wir sollten uns besser darauf konzentrieren, Intoleranz und Rassismus zu verhindern, statt uns vorbeugend vor ihnen zu verstecken. Und wir sollten dabei auch immer in Betracht ziehen, dass Daten uns im Kampf gegen die Intoleranz auch unterstützen können, ja, dass sie vielleicht sogar unerlässlich sind.
3 Kommentare zu Gute Daten, böse Daten – Kontrollverlust als Kontextverschiebung