Vom Supplychain-Kapitalismus zum Plattform-Merkantilismus
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Für den Tagungsband „Materialität des Digitalen“ habe ich meinen Vortrag über Materialität und Austauschbarkeit verschriftlicht. Er bildet – zusammen mit „KI ist ein Coup“ – die Vorstudie eines größeren Projektes zur politischen Ökonomie der Abhängigkeiten, zu dem es hier noch einiges zu lesen geben wird.
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Einleitung
In einer 2015 viral gegangenen Vortragsfolie schreibt Tom Goodwin:
(Goodwin via McAfee/Brynjolfsson 2017: 8)
»Uber, the world’s largest taxi company, owns no vehicles. Facebook, the world’s most popular media owner, creates no content. Alibaba, the most valuable retailer, has no inventory. And Airbnb, the world’s largest accommodation provider, owns no real estate« .
In der beschriebenen Welt schweben die Plattformunternehmen über der Welt des Materiellen und dirigieren Autos, Inventar und Immobilien durch algorithmische Suggestion, wie der Zauberlehrling Besen und Eimer. Das Digitale hat den Kapitalismus ohne Frage ordentlich umgestaltet. Und im Zentrum steht dabei eine Abkehr vom Materiellen. Dieser Befund hat jedoch zwei Probleme:
- Das Materielle, und darauf will ja gerade auch dieser Band aufmerksam machen, ist weiterhin relevant. Wir müssen heute sogar viel dringender als je über materiellen Ressourcen- und Energieverbrauch sprechen, den auch die digitale Welt in einem erstaunlichen Maß verursacht. Das Materielle ist nicht verschwunden, aber seine Rolle innerhalb der wirtschaftlichen Machtverhältnisse hat sich stark gewandelt. Zwischen der offensichtlichen Relevanz des Materiellen und seiner zunehmend marginalisierten Rolle innerhalb des Wirtschaftsgefüges klafft eine erklärungsbedürftige Lücke.
- Diese Wandlung der Rolle des Materiellen setzt lange vor der Popularisierung des Internets und dem Siegeszug der Digitalisierung ein. In ihrem Buch Capital without Capital beschreiben Jonathan Haskell und Stian Westlake die Dematerialisierung des Kapitalismus als einen seit Jahrzehnten anhaltenden Trend, der mittlerweile dazu geführt hat, dass zumindest in den meisten westlichen Ökonomien die immateriellen die materiellen Werte längst überflügelt haben (Haskel/Westlake 2018). Digitale Plattformunternehmen spielen dabei zwar durchaus eine Rolle, jedoch nicht einmal die Hauptrolle. Der Trend zur Dematerialisierung ist weder auf die Digitalwirtschaft beschränkt, noch hat er dort angefangen.
Hier ein Auszug aus dem Bestseller No Logo von Naomi Klein (1999):
»The astronomical growth in the wealth and cultural influence of multinational corporations over the last fifteen years can arguably be traced back to a single, seemingly innocuous idea developed by management theorists in the mid-1980s: that successful corporations must primarily produce brands, as opposed to products«
(Klein 1999: 25)
Klein hatte schon um die Jahrtausendwende die Alarmglocken geläutet, dass sich der Kapitalismus aus der Welt der Dinge – also der Maschinen, der Arbeit, der Produkte – verabschiedet. Klein konzentriert ihre Analyse auf die Rolle des »Brandings«. Sogenannte »Superbrands« wie Nike oder Disney, so Klein, halten sich nicht mehr mit der Produktion von Waren auf, sondern sind praktisch reine Marketingfirmen ihrer selbst geworden, während die tatsächliche Produktion der Güter outgesourced wird.
Ich möchte deswegen die Gelegenheit nutzen, etwas weiter auszuholen und die Frage von Materialität und Immaterialität von der der Bits und Bytes lösen, um einen breiteren Begriff des Immateriellen, oder besser: des Dematerialisierten, zu entfalten. Mit dem Supply-Chain-Kapitalismus hat bereits im letzten Jahrhundert eine tiefgreifende Transformation des Kapitalismus eingesetzt, die dem Immateriellen gegenüber dem Materiellen den Vorzug gibt und das im aktuellen Plattformparadigma lediglich seinen derzeitigen Höhepunkt gefunden hat. Doch was steckt hinter dieser Transformation? Warum verlor das Materielle in den letzten Jahrzehnten an ökonomischer Bedeutung? Und wie verhalten sich die beiden Formen der Dematerialisierung – einerseits der Supplychains, andererseits der Plattformen – zueinander? Gibt es soetwas wie ein Bewegungsgesetz der Dematerialisierung?
Die Schwerelosigkeit der Marke
Naomi Klein erzählt die Geschichte der Dematerialisierung als Konsequenz eines Kapitalismus, der seine Nachfrage übertrumpft hat. Die Massenproduktion von Gütern war bis in die 1970er Jahre der Grundstein des wachsenden Wohlstands in der westlichen Welt. Seit den 1970er Jahren geriet die amerikanische Wirtschaft allerdings in eine Absatzkrise. Es wurde schlicht mehr produziert, als nachgefragt wurde. Um diese Nachfragesättigung zu überwinden, wurden immer mehr Geld und Ressourcen in Werbung und Marketing gesteckt; ein Wirtschaftszweig der dementsprechend einen wachsenden Anteil in der Ökonomie einnahm.
»Ever since mass production created the need for branding in the first place, its role has slowly been expanding in importance until, more than a century and a half after the Industrial Revolution, it occurred to these companies that maybe branding could replace production entirely«
(Klein 1999: 205).
Klein ist dabei sehr bewusst, dass die Immaterialität dieser Art des Wirtschaftens eine vorgetäuschte ist. Sie schreibt:
»Despite the conceptual brilliance of the ›brands, not products‹ strategy, production has a pesky way of never quite being transcended entirely: somebody has to get down and dirty and make the products the global brands will hang their meaning on«
(Klein 1999: 210)
Sie nimmt uns sodann mit auf eine Reise in die Länder des globalen Südens, wo sie die Fabriken der Zulieferbetriebe besichtigt hat, die Nike-Schuhe und Mickey Mouse-Puppen herstellen. Sie hat mit Arbeiter*innen gesprochen, die in sogenannten »Sonderwirtschaftszonen« noch weniger Rechte haben und noch skrupelloser ausgebeutet werden, als es in diesen Ländern sowieso schon üblich ist. Produkte in den Sonderwirtschaftszonen produzieren zu lassen ist natürlich billiger, weil die Arbeitskosten viel niedriger als in westlichen Industrienationen sind. Aber ein weiterer attraktiver Aspekt für diese Firmen ist, dass sich Marken nicht mit den Subunternehmern assoziieren lassen müssen. Klein erzählt die Geschichte des Disney-Unternehmenssprechers Ken Green, der auf die kritische Frage nach den unmenschlichen Arbeitsbedingungen in den Fabriken in Haiti entgegnete »We don’t employ anyone in Haiti« (Klein 1999: 205).
Klein hat durchaus recht, wenn sie sagt, dass die Konzentration auf Marketing und Branding einer der Treiber der Abkehr vom Materiellen ist. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Denn das, was diese Firmen überhaupt befähigt, Zulieferer in anderen Regionen der Welt zu beauftragen, basiert auf einer zweiten großen, wenn nicht viel grundlegenderen Verwandlung des Kapitalismus: die strukturelle Transformation großer Teile der Weltwirtschaft durch die Entstehung transnationaler Lieferketten und damit die Verwandlung des herkömmlichen Kapitalismus in eine neue, globalisierte Spielart: den Supplychain-Kapitalismus.
Der Aufstieg des Supplychain-Kapitalismus
Supplychains halten seit Anfang der 1980er Jahre vermehrt Einzug in die Management-Literatur, und auch wenn man sich heute damit befassen will, wird man vor allem in den Büchern und Aufsätzen der Wirtschaftswissenschaft oder der Managementtheorie fündig. Dort wird die Geschichte als eine Erfolgsgeschichte moderner Managementmethoden in einer sich zunehmend globalisierenden Welt erzählt.
Am Anfang steht die Feststellung, dass die Prozesse zur Herstellung, Distribution und Vermarktung von Produkten vielfältig sind und ganze Ketten von Wertschöpfungsstationen durchlaufen, die der Management-Theoretiker Michael Porter »Value Chains« nennt (Porter 1985).
Mit der Ausbreitung von modernen Kommunikationsmitteln reduzieren sich die Transaktionskosten so sehr, dass es wirtschaftlich wird, die einzelnen Stationen der Wertschöpfung an unterschiedliche Akteure outzusourcen (Sanyal 2012). Dies ermöglicht die Verteilung der Produktion über die ganze Welt, während der Markt dafür Sorge trägt, dass sich alle Stationen entlang des optimalen Preis-/Leistungsverhältnis verteilen.
Schon seit David Ricardo wissen wir, dass Länder, die sich auf bestimmte Produkte spezialisieren, einen »komparativen Vorteil« haben, so dass sich die globale Werkbank entsprechend ausdifferenziert (Christopher/Daco 2012). Zum Beispiel spezialisierte sich Japan bald auf Unterhaltungselektronik, Bangladesch auf Textilien, Deutschland auf Autos und Maschinen und die USA eben auf Software und Marketing. Überdies standardisierte die »Inter national Standards Organization« in den 1960er Jahren den Schiffscontainer und gibt damit der Globalisierung einen Extraschub. Mit dem ISO-Container-Standard können Be- und Entladung von LKWs, Zügen und Schiffen enorm beschleunigt und die weltweite Logistik viel effizienter organisiert werden (Sanyal 2012; Heilweil 2021).
Es sei außerdem auf die internationale Standardisierung des multilateralen Handels durch das GATT-Abkommen und schließlich auf die Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) hingewiesen, die für einheitliche Handelsregime und den Abbau von Zöllen und anderen Handelsbarrieren sorgte. Dazu kommen die vielen multilateralen Freihandelsabkommen der letzten Jahrzehnte wie etwa TRIPS, CETA und TTIP, die Handelsregime weltweit harmonisieren und damit die Transaktionskosten des globalen Handels weiter reduzieren (Nicita/Ognivtsev/Shirotori 2013).
Mit der Ausbreitung der Supplychains wurde die Globalisierung erst so richtig angeschoben. Zwar gab es auch vorher internationale Konzerne. Das waren jedoch Unternehmen, die ein internationales Filialnetz unterhielten oder international Handel trieben. Der Supplychain-Kapitalismus sortiert die Länder der ganzen Welt in eine globale Arbeitsteilung. Das führte einerseits zu enormem wirtschaftlichen Wachstum in manchen Regionen. Während noch Ende der 1980er Entwicklungsländer etwa 5% des weltweiten Handels beisteuerten, sind es heute fast 50%, und 80% aller gehandelten Güter durchlaufen globale Supplychains (Vaughan-Whitehead 2022).
Kurz: Supplychains waren einfach eine gute Idee zur rechten Zeit, die sich deswegen entlang von technischen Innovationen und politischen Entscheidungen am Markt durchgesetzt haben und seitdem für günstige Produkte im Westen und für wachsenden Wohlstand im globalen Süden sorgen.
Der Aufstieg des Supplychain-Kapitalismus nach Anna Tsing
Solche und ähnliche Beschreibungen des Supplychain-Kapitalismus sind zwar nicht völlig falsch, aber unvollständig und ahistorisch. Anna Tsing erzählt in ihrem Buch „The Mushroom at the End of the World“ den Aufstieg der Supplychains ganz anders (Tsing 2015: 107ff.), und zwar als eine Geschichte zweier konkurrierender Mächte: Japan und die USA. Als 1853 amerikanische Kanonenboote an der Küste vor Japan die Öffnung der japanischen Volkswirtschaft für den internationalen Handel erzwangen, sorgte das dort für einen politischen Umsturz und führte zu einer rapiden Verwestlichung der japanischen Kultur. Es entwickelte sich schnell eine moderne Ökonomie mit Fabriken, Banken und Handel. Anfang des 20. Jahrhunderts formten sich bereits die ersten Konglomerate, also Firmenstrukturen, die Unternehmen mit unterschiedlichen Funktionen unter einem Konzerndach etablierten. Dabei ging es darum, die Industrieproduktion mit starken Handelsunternehmen zu flankieren und mittels hauseigener Banken zu finanzieren. Nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg formierten sich die Konglomerate neu als »Enterprise Groups« und fingen an, Zulieferer in anderen Ländern zu gründen. Finanziert wurde das durch Kredite der Banken, die die Mischkonzerne an die gegründeten Zulieferer und zusammen mit eigenem Know-how weiterreichten. Die Zulieferer waren damit zwar formell unabhängig, aber wirtschaftlich doch abhängig, so dass sie bequem aus Japan gesteuert werden konnten.
Die Vorteile waren vielfältig: man konnte auf die Ressourcen des jeweiligen Landes zugreifen, ohne politische oder öffentlichkeitsbedingte Risiken einzugehen. Der Zulieferer übernahm formell die Verantwortung für Arbeiter*innen und Umwelt und kapselte die sich daraus ergebenden Risiken und potenziellen Kostenfaktoren vom Leitunternehmen ab (»We don’t employ anyone in Haiti«).
Gleichzeitig konnten die Leitunternehmen die Zulieferer schnell austauschen, etwa wie im von Tsing geschilderten Beispiel, die Holzarbeiter*innen von den Philippinen schnell nach Indonesien übersetzten, wenn dort der Wald knapp wurde (vgl. Tsing 2015: 116). Das bedeutet, dass die Zulieferer in eine kompetitive Situation versetzt wurden, die ihre Verhandlungsmacht mit den Leitunternehmen von vornherein begrenzte (Danielsen 2019).
Ein weiterer Faktor waren Einfuhrbeschränkungen in den USA, die aus Angst vor der immer größer werdenden japanischen Konkurrenz eingerichtet wurden. Südkorea war eines der ersten Länder, das vom frühen Supplychain-Boom durch japanische Unternehmen profitierte und entsprechend eine eigene industrielle Basis ausbauen konnte.
Diese konnte dann wiederum dazu genutzt werden, um die Produkte von dort in die USA zu verschiffen und so die Einfuhrbeschränkungen zu umgehen. Die japanischen Leitunternehmen achteten dabei sehr genau darauf, dass Südkorea immer einen oder zwei technologische Schritte hinter den japanischen Konzernen verblieben. Gleichzeitig begannen die Zulieferer in Korea ihrerseits weniger anspruchsvolle Arbeiten an Zulieferer in anderen Regionen auszulagern. Das Modell begann sich global zu streuen. In Japan wurden diese Supplychain-Verzweigungen mit der Metapher der »Fliegenden Gänse« beschrieben. Die Leitgans fliegt voraus, die anderen sortieren sich dahinter, aber alle fliegen in eine Richtung.
Unter dem Druck des Erfolgs der japanischen Industrie und ihrem Supplychain-Modell begannen in den späten 1980er Jahren auch amerikanische Investor*innen die US-Industrie umzubauen. Unternehmensfusionen, Aufkauf durch Hedgefonds, das Abspalten und Auslagern von unwirtschaftlichen Unternehmensteilen waren bis einschließlich der gesamten 1990er Dauerthema in den USA und mit etwas Zeitverzug auch in Europa.
Und hier sind wir zurück bei Nike. Der Konzern ging ursprünglich aus dem amerikanischen Handelsarm eines japanischen Konzerns hervor, der bereits umfassende Erfahrung mit der Organisation von Supplychains hatte. Die amerikanische Ausgründung konnte dieses Wissen mit dem amerikanischen Know-how zu Marketing und Branding kombinieren, was zu dem sagenhaften Erfolg des Unternehmens führte. Ähnlich wie das amerikanische Kanonenboot, dass im 19. Jahrhundert die Öffnung der japanischen Ökonomie erzwang, haben japanische Lieferketten eine Umorganisation der amerikanischen Wirtschaft erzwungen. Oder wie es die Figur Joseph Yoshinobu Takagi in dem Film Stirb Langsam (Die Hard) ausdrückt: »We’re flexible, Pearl Harbor didn’t work out so we got you with tape decks.«
Supplychains sind historisch betrachtet nicht einfach Managementideen, die sich am Markt durchgesetzt haben, sondern es sind bewusst in die Welt gesetzte hierarchische Strukturen, die zur Minimierung von Verantwortlichkeit bei gleichzeitiger Maximierung von Kontrolle geschaffen wurden. Damit wird auch klar, dass es dabei nicht in erster Linie um wirtschaftliche Zusammenarbeit geht, sondern um Macht.
Abhängigkeit und Austauschbarkeit
Um diese Machtstrukturen genauer zu analysieren, erweist sich der Rückgriff auf den viel zu wenig rezipierten Aufsatz von Richard M. Emerson Power-Dependence Relations aus dem Jahr 1962 als nützlich (Emerson 1962) 1.
Emerson definiert hier die Macht zwischen Akteuren als die wechselseitige Abhängigkeit dieser Akteure. Macht ist bei ihm also immer ein relationales Verhältnis und es ist umgekehrt proportional zur Abhängigkeit in der Relation:
Wenn A abhängig von B und B abhängig von A ist, dann ist die Macht von A über B B’s Abhängigkeit von A und umgekehrt. Dass Abhängigkeit und damit auch Macht immer wechselseitig gedacht wird, widerspricht dabei nicht der Beobachtung, dass es durchaus Machtungleichgewichte gibt. So kann A weit weniger abhängig sein von B als B von A (Emerson 1962).
Stellen wir uns eine ausgeglichene Beziehung vor: A und B sind hier zwei Kinder aus der Nachbarschaft. Die beiden Kinder spielen gern zusammen, denn allein spielen ist langweilig. Sie sind also beide von der wechselseitigen Kooperation abhängig. Würde A sich weigern, mit B zu spielen, könnte B sein Ziel (gemeinsames Spielen) nicht erreichen. Aber A könnte es ebenso wenig.
Nun zieht eine neue Familie in die Nachbarschaft, und A lernt C kennen, das gleichaltrige Kind der neuen Familie. Die beiden freunden sich an. Das verändert auch die Beziehung zwischen A und B, da A jetzt eine alternative Spielpartnerin hat. A hat nun mehr Macht über B, da er weniger abhängig von B ist als B umgekehrt von A. B müsste nun einen Balanceakt vollziehen, um dieses Machtungleichgewicht wieder auszutarieren. Dafür hat sie vier Optionen.
- Sie kann ihre eigene Motivation, mit A zu spielen, zügeln (»A ist eh doof«).
- Sie kann sich eine alternative Ressource erschließen, also zum Beispiel eine andere Spielkameradin finden (eine Spielkameradin D zum Beispiel).
- Sie kann sich selbst als Spielkameradin für A wieder attraktiver machen (indem sie zum Beispiel in ein neues Legoset investiert), damit A wieder lieber zu B zum Spielen kommt.
- Sie kann As Zugang zu alternativen Ressourcen (in diesem Fall also zu C) versperren. Sie kann zum Beispiel Cs Familie überreden, wieder wegzuziehen (schwierig), oder sich mit C verbünden (leichter)
Wenn wir dieses einfache Framework auf die Zulieferketten anwenden, ergibt sich ein klares Bild: Um einen Nike-Schuh herzustellen, sind alle Akteure (das Leitunternehmen sowie alle Zulieferfirmen) wechselseitig voneinander abhängig. Jedoch gibt es Unterschiede: Jeder Einzelne der Zulieferer – egal ob er Stoffe, Plastik oder Kordeln herstellt – ist aus Sicht des Leitunternehmens recht einfach austauschbar (Balanceakt 2). Es gibt viele konkurrierende Unternehmen und selbst wenn es sie nicht gäbe: das Wissen um Stoffe, Plastik und Kordeln herzustellen ist schnell ins Werk gesetzt.
Das Leitunternehmen hingegen, Nike, betreut zwar nur die Marke und andere Rechte, aber diese Rechte sind dank internationaler Abkommen wie TRIPS und durch die WTO global geschützt (Balanceakt 4). Die Leitunternehmen kontrollieren daher monopolistisch den Zugang zur Wertschöpfung. Für die Zulieferer ergibt sich dadurch eine enorme Abhängigkeit, denn ohne den Zugang zu Nikes Verkaufsnetzwerk und seiner »Brand-Recognition« sind die Produktivitätskapazitäten der Zulieferer völlig nutzlos. Dadurch ist Nike der einzige Akteur in diesen wechselseitigen Beziehungen, der weniger von den anderen abhängig ist, als diese von ihm. Die »Fliegenden Gänse« sind also in Wirklichkeit eine Hierarchie der Macht, die von einem durch globale Gesetzgebung geschützten Leitunternehmen angeführt und ausgebeutet werden. Je tiefer man in die Verästelung der Lieferketten hinabsteigt, desto austauschbarer werden die Unternehmen und sind in Ableitung davon, entsprechend weniger fähig, erarbeitete Margen zu kassieren.
Empirisch lässt sich dieses Ungleichgewicht gut am Smartphone-Markt beobachten. Seit der Markt für iPhones gesättigt ist und die Verkaufszahlen stagnieren, sinkt entsprechend der Umsatz bei Foxconn, dem chinesischen Fabrikanten der iPhones, während Apple, das vor allem die Marke und die Patente kontrolliert, seinen iPhone-Umsatz um 20% steigern konnte (Danielsen 2019).
Im Supplychain-Kapitalismus gibt es nicht mehr nur die Ausbeutung von Arbeiter*innen durch Kapitalist*innen, sondern auch die Ausbeutung von Kapitalistinnen untereinander. Es entsteht eine globale Hierarchie der Kapitalist*innen, bei der sich nur die Zulieferer noch mit einfachen Arbeiter*innen herumschlagen müssen. Diese Zuliefer-Kapitalist*innen sitzen meist in eher strukturschwachen Ländern und müssen, um überhaupt am Spiel der globalen Lieferketten mitspielen zu dürfen, ihre Produktivitäts-Margen den Leitunternehmen opfern. Zu diesem Schluss kommt zum Beispiel Dan Danielsen:
»The fierce competition among developing-country suppliers in many business sectors will likely require supplier firms to make these innovations to gain access to or remain competitive in global supply chains with gains likely captured by buyer firms or shared across global chains«
(Danielsen 2019)
Und nun landen wir in einem scheinbaren Paradox: Die Firmen, die sich eigentlich nur noch mit dem Immateriellen beschäftigen – z.B. Nike oder Apple – sind am wenigsten austauschbar. Die Firmen, die die materiellen Komponenten beisteuern – die Fabrik, die Maschinen, die Arbeiter*innen, die physischen Produkte – sind das Austauschbare schlechthin.
Relationale Dematerialisierung
An dieser Stelle sind wir gezwungen, uns zu fragen, was Materialität eigentlich bedeutet. Ist es damit getan, das Materielle als physikalisch beschreib- und messbare (Energie, Masse) Entitäten zu definieren? Was wäre mit einer solchen essentialistischen Definition gewonnen? Natürlich sind solche Verweise auf Materialität wichtig, um über reale Effekte auf Umwelt und Menschen zu verweisen. Lieferketten extrahieren materielle Ressourcen und beuten menschliche Arbeit aus. Doch das Interessante ist doch gerade die Diskrepanz zwischen dem wirklich Materiellen und dem, was wir als tatsächlich harte Grenze des Mach- und Denkbaren empfinden. Nur diese Diskrepanz ermöglicht die Materialitätsvergessenheit, die es nötig macht, die Materialität überhaupt so direkt zu adressieren. Es ist, als gäbe es zwei widerstrebende Materialitäten: die eine, tatsächliche Materialität, die aber durch ihre zunehmende Austauschbarkeit aus dem Fokus der Aufmerksamkeit rutscht; und eine ›gefühlte‹ Materialität, die sich durch ihre tatsächlich empfundene Widerständigkeit unsere Grenzen absteckt, obwohl die ihr zugrunde liegenden Mechanismen rein ausgedachte und von Menschen ins Werk gesetzte sind (Markenrechte, Patente, Lizenzen, Verträge etc.).
Diese andere Materialität definiert sich durch kritische Abhängigkeiten, das heißt am Ende: Nicht-Austauschbarkeiten. Diese andere Materialität lässt sich mit Katharina Hoppe vom Relationalen her denken. Hoppe hat dies unter anderem in ihrem mit Thomas Lemke veröffentlichten Band Neue Materialismen zur Einführung vorgeschlagen (Hoppe/Lemke 2022: 164f.), aber noch einmal deutlicher in einem kürzlich veröffentlichten Interview:
»Wenn man konsequent von der Einsicht in die Relationalität her denkt und die Entstehung der Welt als offenen Prozess versteht, dann kann Materie als aktiv, aber auch als schlapp und passiv vorkommen. Dies wäre dann eben ein Ergebnis der jeweiligen Analyse und nicht ihre Voraussetzung«
(Hoppe via Schätzlein 2023)
Hoppe versucht, das Materielle von der Relationalität her zu denken und Materie an sich erstmal noch keine hervorgehobene Rolle zuzuweisen. Diese Rolle entsteht erst in der Verbindung, das heißt in der Interaktion.
Wie Hoppe denkt auch Anna Tsing in Konzepten von Verbundenheit.2 Tsing spricht nicht direkt von Materialität und Immaterialität, doch sie problematisiert ein verwandtes Konzept: Die Skalierung. Skalierung bedeutet für Tsing ein nicht-transformatives Wachstum. Ein Wachstum also, das zwar neue Verbindungen eingeht, sich von diesen Verbindungen aber nicht verändern lässt.
Eine skalierbare technische Infrastruktur ist zum Beispiel eine, bei der es strukturell kaum einen Unterschied macht, ob sie von 10 oder 10 Millionen Menschen verwendet wird. Die meisten modernen Geschäftsmodelle basieren auf einer solchen Idee von Skalierung bzw. Skalierbarkeit.
Tsing wendet aber ein, dass diese Skalierbarkeit immer einen Preis hat. Das zu Skalierende muss, so Tsing, immer aus einem Gewebe von Verbindungen herausgelöst werden. Verbindungen müssen gekappt werden, um Skalierbarkeit zu gewährleisten. Tsing gibt das Beispiel von Zuckerrohrplantagen in der Kolonialzeit in Südamerika. Die Portugiesen merkten bald, dass eine wesentliche Voraussetzung der Skalierbarkeit die Entwurzelung und damit die Austauschbarkeit der Elemente ist:
»They crafted self-contained, interchangeable project elements, as follows: exterminate local people and plants; prepare now-empty, unclaimed land; and bring in exotic and isolated labor and crops for production. […] The interchangeability of planting stock, undisturbed by reproduction, was a characteristic of European cane. … Under these conditions, workers did, indeed, become self-contained and interchangeable units«
(Tsing 2015)
Die Herstellung von Austauschbarkeit erweist sich als wesentliches Basiselement kapitalistischer Wachstumskonzeptionen. Und diese Austauschbarkeit wird über das Abkapseln von Verbindungen und das Reduzieren von Abhängigkeiten hergestellt. Erst diese »relationale Dematerialisierung« reduziert die Reibung in den Prozessen und macht globale Lieferketten überhaupt möglich. Der Schiffscontainer ist somit nicht nur das logistische Kernstück der Globalisierung. Es ist auch zentrales Sinnbild einer Form von »relationaler Dematerialisierung«, die alle unnötigen Verbindungen abkapselt und jedes physische Gut zu einer austauschbaren Einheit macht. Der ISO-Container ist absolut austauschbar, das ist sein ganzer Sinn. Und dieser Sinn besteht am Ende im Verschwinden des Materiellen als einer widerständigen Realität.3
Plattformen als Infrastruktur der Austauschbarkeit
Der ISO-Container nimmt in dieser Hinsicht die Digitalisierung vorweg. In der Digitalisierung geht es, wie bei den Lieferketten, um Skalierung durch Austauschbarmachung. Die digitale Kopie hat eine neue Qualität von Austauschbarkeit in die Welt gesetzt, die eine bis dahin ungekannte Skalierung erlaubt. Es ist wirtschaftlich egal, ob ein digitaler Song 10 oder 10 Milliarden Mal kopiert und in Sekundenbruchteilen distribuiert wird. Diese Eigenschaft des Digitalen hat unsere Leben in vielen Hinsichten bequemer gemacht, aber auch zu neuen Problemen geführt.
Zum Beispiel: Wie organisiert man Wirtschaft unter der Bedingung der Unknappheit (Staab 2020)? Die Antwort auf dieses Problem sind Plattformen. Plattformen radikalisieren den Prozess der relationalen Dematerialisierung und skalieren auf eine Weise, die man in der physischen Welt noch nicht gesehen hat. Der Begriff »Plattform« kommt ursprünglich aus dem Französischen und ist eine Zusammensetzung aus altfranzösisch plat (flach) und forme (von lateinisch forma). Er wurde in der frühen Neuzeit vor allem in Bezug auf eine militärische Architektur verwendet, eine etwas erhöhte Fläche, die sich gut eignete, Katapulte und später Kanonen darauf zu positionieren. Kanonen sollten einerseits erhöht stehen, um eine optimale Reichweite zu erzielen, andererseits musste gewährleistet sein, dass sie schnell austauschbar waren. Die Austauschbarkeit ist auch hier von Anfang an entscheidend.
Eine sehr einfache Definition von »Plattform« wäre »Infrastruktur des Austausches«. Das ist sie aber auf zweifache Weise. Zum einen sind Plattformen Orte, an denen man sich austauscht: der Ort, wo man in und aus dem Zug steigt (zumindest im Englischen); der Ort, an dem man Geschichten teilt, Handel betreibt, flirtet oder ein Taxi heranruft. Zum anderen sind Plattformen Orte der Austauschbarmachung. Auf Plattformen kann ich nur als austauschbare, in gewisser Weise standardisierte Variante meiner selbst teilnehmen, als Dividuum statt als Individuum (vgl. Seemann 2021: 113f.). Das erlaubt es anderen, mich über standardisierte Suchen zu finden und umgekehrt auch mir, andere zu finden und mich zu verbinden. Die Verbindung über die Plattform verbleibt also immer unter dem Vorbehalt der Austauschbarkeit, was den Austausch für alle vereinfacht und die Menge an potenziellen Verbindungen für jeden Einzelnen erweitert. Diese Skalierung geht aber immer auch mit der eigenen Austauschbarkeit einher, denn die nächste Fahrerin, die nächste Unterkunft, das nächste Date ist nur einen Klick oder Rechts-Swipe entfernt. Das gilt zumindest für die Interaktionen, die exklusiv auf der Plattform verbleiben.
Die Unaustauschbarkeit des Graphen
Dieser generellen Austauschbarkeit der einzelnen Verbindung steht allerdings eine große Nicht-Austauschbarkeit gegenüber: die des Graphen. Ein Graph, oder genauer ein »Netzwerkgraph«, ist erstmal die Beschreibung eines Netzwerkes. Individuell ergibt sich ein je einzigartiges Netzwerk an Verbindungen, die den Nutzenden an die Plattform bindet und ein tatsächliches Abbild seiner sozialen und kulturellen Bindungen ist. Und genau in dem Unterschied zwischen austauschbarer Verbindung und unaustauschbarem Graphen residiert die Macht der Plattformen.
»Graphen sind ebenjene unterliegende Architektur, die eine Plattform nicht selbst herstellen kann. Eine Plattform kann die Voraussetzungen schaffen, um die Verbindungen zu ermöglichen – als erwartete Selektion potentieller Verbindungen. Aber der Graph einer Plattform ist nur zu etwas nütze, wenn er in den konkreten Verbindungen mit einer Realität außerhalb der Plattform korreliert: echte Musikleidenschaften, bedeutende Freundschaften, bedeutende Bedürfnisse, bedeutende Interessen, bedeutende Orte, Wege oder Leidenschaften.«
(Seemann 2021: 154)
Diese Macht wird in der ökonomischen Theorie gerne als »Netzwerkeffekt« oder »Netzwerkexternalität« bezeichnet.4
Sie sorgt dafür, dass Menschen einerseits einen starken Anreiz haben, sich großen Netzwerken anzuschließen (es locken viele potenzielle Verbindungen) und bindet andererseits Menschen langfristig an Plattformen (der sogenannte »Lock-in-Effekt«).
Netzwerkeffekte kann man also auch als aggregierte Abhängigkeiten betrachten. Alle wechselseitigen Abhängigkeiten der Nutzenden einer Plattform übersetzen sich – sofern sie über die Infrastruktur der Plattform ausagiert werden – in eine Abhängigkeit von der Plattform selbst. Und genau hier liegt die Plattformmacht als relative Unaustauschbarkeit. Das gilt sowohl für kleinere Netzwerke – etwa Nachbarschaftsnetzwerke oder Unternehmens-Chats – als auch für größere, wie Dating-Apps, Lieferdienste oder Übernachtungsvermittlungs-Apps. Dabei gilt: Große Plattformunternehmen kontrollieren entsprechend große Graphen. Facebook kontrolliert den »Social Graph«, Google kontrolliert den »Interest Graph«, Amazon kontrolliert den »Consumption Graph« usw. (Valdes 2012).
Strategisch gesehen steht die Inbesitznahme eines Graphen folglich im Zentrum einer jeden erfolgreichen Plattformgeschichte.5 Neue Plattformen haben das Problem, dass auf ihnen noch keine Interaktionen stattfinden, weswegen sie für Nutzende zunächst uninteressant sind. Es ist das typische Henne-Ei-Problem: Erst mit der Interaktion entsteht die Attraktivität, die die Interaktion möglich macht. Historisch wurde dieses Problem dadurch gelöst, dass Plattformen initial einen bereits etablierten Interaktionszusammenhang aufgreifen und versuchen, ihn in die Plattform zu integrieren. Bei Facebook waren es zunächst Elite Campus, die die Grundlage des frühen Facebook-Wachstums bildeten, bei Amazon Buchbegeisterte, bei Paypal Ebay-Nutzende (vgl. Seemann 2021: 145ff.). Während die Leitunternehmen in der Supplychain also ihre Immaterialgüterrechte einsetzen, um sich an die Spitze der Austauschbarkeits-Hierarchie zu setzen, spielen diese Rolle bei den Plattformunternehmen die aggregierten Abhängigkeiten ihrer Nutzenden: der Graph.
Der Plattformmerkantilismus
Die Gemeinsamkeit des Supplychain-Modells mit dem Plattform-Modell ist also, dass sie beide durch geschicktes Herstellen von Austauschbarkeit und Abhängigkeit eine Super-Struktur oberhalb des herkömmlichen Kapitalismus etablieren, die andere kapitalistische Akteure in eine Hierarchie zwingt, in der sie sich selbst unaustauschbar gemacht haben und deswegen alle anderen ausbeuten können. Aber in der Form der Unaustauschbarkeit unterscheiden sie sich grundlegend.
Das Supplychain-Modell folgt noch der klassischen Logik des Kapitalismus. Diese kann man wie folgt zusammenfassen: Das Eigentum an Produktionsmitteln (Kapital) wird staatlich geschützt und etabliert eine hinreichende Nichtaustauschbarkeit (ein mehr oder weniger lokales Monopol), während das Unternehmen die Aufgaben der Arbeiter*innen hinreichend standardisiert – also relational dematerialisiert – um ihre Austauschbarkeit zu gewährleisten. Die Tatsache, dass im Supplychain-Modell die Produktionsmittel der Leitunternehmen immaterielle Werte wie Marken- und Verwertungsrechte sind, statt Gebäude und Maschinen, ist zwar eine historische Neuerung; sie tastet das Grundprinzip des Kapitalismus aber nicht an. Vielmehr radikalisiert es das kapitalistische Modell, weil das immaterielle Kapital (weltweit geschützte Immaterialgüterrechte) in der Praxis noch unaustauschbarer ist, als es das materielle Kapital (Gebäude, Maschinen) je war.
Das Plattformmodell weicht hier entscheidend ab. Indem es als Machtgrundlage die Unaustauschbarkeit des durch ihn kontrollierten Graphen etabliert, macht es sich vom Ordnungsregime des Eigentums – und damit der Durchsetzungsmacht des Staates – ein gutes Stück unabhängig. Plattformen haben kein rechtliches Eigentum an ihrem Graphen. Es gibt keine Möglichkeit Dritten gegenüber einen Rechtsanspruch für einen Graphen zu reklamieren, denn Interaktionszusammenhänge sind rechtlich nicht eigentumsfähig. Das brauchen Plattformen aber auch nicht. Ihre Macht basiert auf der direkt ausgeübten Kontrolle über den Graphen mittels ihrer technischen Infrastruktur (Seemann 2021: 117ff.). Über diese können Plattformen zum Beispiel vorgeben, welche Arten von Interaktionen man auf ihnen durchführen darf (Infrastrukturregime), sie können Nutzende ein- und ausschließen (Zugangsregime) und sie können mittels algorithmischer Kontrolle bestimmte Interaktionen wahrscheinlich oder unwahrscheinlich machen (Query-Regime).
Damit gleicht die Struktur der politischen Ökonomie der Plattformen viel eher der des merkantilistischen Staats als der des kapitalistischen Unternehmens. Im Merkantilismus war es der sich gerade formierende Staat, der seine Kontrollinstrumente – Steuern, Zölle, das Vergeben von Monopolrechten, im Zweifel Gewalt (Shovlin 2014) – direkt dazu einsetzte, die eingehenden und ausgehenden Ressourcen zu kontrollieren und so seine Staatsfinanzen mittels extrahierter Renten aufzubessern (Magnusson 2015: 54ff.). Und ähnlich wie bei Plattformen basierte im Merkantilismus ein Großteil dieser Ressourcen auf der Ausbeutung von eroberten Gefilden – Kolonien im Falle der Staaten, okkupierte Graphen im Falle der Plattformen.
The Means of Connection
Wie schon im Supplychain-Kapitalismus setzt sich auch bei den Plattformen eine Kapital-Kapitalistische Ausbeutung ins Werk. Zwar passiert auch im Plattformmerkantilismus die Ausbeutung oft auf Kosten von Arbeiter/*innen (deren Arbeiterstatus aber oft durch Selbstständigkeit verschleiert wird), aber eben nicht nur. Vielmehr geht die Ausbeutung auch auf Kosten von klassischen Kapitalist/*innen. Diese sind nämlich zunehmend darauf angewiesen, ihre Kundschaft über Plattformen zu erreichen und müssen, um Zugang zu ihnen zu bekommen, ihre Margen an die Plattform abtreten. Die vielen Klagen der Händler*innen über den Amazon Marketplace (Bundeskartellamt 2021), die prekäre Lage der Smartphonehersteller in Googles Handset-Alliance (Amadeo 2018) und die viel kritisierte 30% Abgabe auf Apples App-Store (Roth 2022) sind nur die prominentesten Beispiele dieser Ausbeutung.
Rufen wir uns das Zitat von Tom Godwin in Erinnerung:
»Uber, the world’s largest taxi company, owns no vehicles. Facebook, the world’s most popular media owner, creates no content. Alibaba, the most valuable retailer, has no inventory. And Airbnb, the world’s largest accommodation provider, owns no real estate.«
Wir können nun besser verstehen, wie das tatsächliche materielle Kapital (Immobilien, Autos, Inventar) zur Nebensächlichkeit wird, wenn man als Plattform die Verbindungen und damit Abhängigkeiten kontrolliert. Im Plattformmerkantilismus gilt nicht mehr der als mächtig, der die »Means of Production« besitzt, sondern wer die »Means of Connection« kontrolliert.
Fazit
Plattformen, so scheint es, haben ihren Zenit bereits überschritten. Der »Techlash« ruinierte das Image von Silicon Valley (Kuhn 2018). Große »Unicorns« wie WeWork und Uber sind bankrottgegangen oder mussten ihre Erwartungen enorm reduzieren (Karabell 2019). Rebecca Giblin und Cory Doctorow sprechen von »enshittification« der großen Plattformen und meinen damit die zunehmende Extraktion der Abhängigkeiten im Graphen zur Erhöhung des Profits (Giblin/Doctorow 2022). Plattformen sind toxisch geworden. Seit Elon Musk Twitter kaufte und es zu X umfunktionierte, hält sich die Stimmung, dass es mit Social Media insgesamt zu Ende geht (Bogost 2022).
Darüber hinaus haben sich ganz klassisch kapitalistische Konzerne wie der taiwanesische TSMC durch Forschung und Entwicklung einen sehr konkreten technologischen Vorsprung und damit eine Unaustauschbarkeit erarbeitet, die die Plattformunternehmen auf dem falschen Fuß erwischt hat (Campbell 2021). Sie alle sind nun von den sehr klassisch materiellen Produktionslinien von TSMC abhängig, der heute fast ein Monopol auf die Produktion der leistungsfähigen Chipgenerationen hat. Gleichzeitig ist es gerade die generative KI, die als neue Leittechnologie die Imaginationen und damit die Gelder der Venture-Kapitalgeber*innen auf sich zieht. Generative KI ist eine Technologie, die zwar auch in Plattformen Anwendung findet, aber grundsätzlich erstmal wegführt von der zwischenmenschlichen Interaktion: Eine Technologie, die sogar auf lange Frist das Potential in sich birgt, die Abhängigkeiten der Menschen untereinander allgemein zu reduzieren (Seemann 2023).
Das Plattformparadigma wird genauso wenig sterben, wie es das Supplychain-Paradigma getan hat. Es wird nur aufhören, das meistdiskutierte Phänomen unserer Zeit zu sein. Es werden auch in Zukunft neue Wege gefunden werden, Austauschbarkeitshierarchien zu etablieren und sich an ihre Spitze zu setzen. Und genau darum geht es mir: Das Framework zur Beschreibung von Macht durch wechselseitige Abhängigkeit und Austauschbarkeit scheint mir universell genug zu sein, um es auch auf kommende Ausbeutungsparadigmen anzuwenden. Es bietet Anknüpfungspunkte für Analysen von Abhängigkeitsverhältnissen wirtschaftlicher Akteure, die nicht mehr den Markt ins Zentrum stellen, sondern Macht. Das Framework ist damit grundsätzlich auf den Feudalismus ebenso anwendbar wie auf den Kapitalismus, den realen Sozialismus oder den Merkantilismus. All diese Wirtschaftssysteme sind nur unterschiedliche Ausgestaltungen von Abhängigkeitshierarchien mit den je etablierten Mechanismen ihres Managements. Dieser Essay soll somit ein noch unkonkretes Forschungsprogramm begründen, das viele weitere Anwendungsfälle der Theorie anschaut.
Literatur
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Fußnoten
- Der Kürze halber lasse ich die weitergehende, theoretische Einbettung weg, in der Emerson heute meist gelesen wird: nämlich der Resource Dependence Theory/RDT (Pfeffer/Salancik 1978). ↩
- Beide sind in dieser Hinsicht stark von der Philosophie Donna Haraways geprägt. ↩
- Es ist deswegen kein Zufall, dass die Lieferketten genau dann wieder ins Bewusstsein rückten, als sie im Zuge der Coronapandemie zusammenbrachen. ↩
- Mit David Singh Grewal bezeichne ich diese Macht allerdings auch als »Netzwerkmacht« (vgl. Seemann 2021: 104ff.; Grewal 2008). ↩
- Einen Vorgang, den ich mit Christoph Engemann »Graphnahme« nenne (vgl. Seemann 2021: 146ff.; Engemann 2016). ↩
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