Vor ein paar Tagen, als die ersten Schlagzeilen um den Fall Kachelmann die Runde machten, veröffentlichte Stefan Niggemeier auf seinem Blog Tweets. Tweets, die – so fand er – unlustig, auch verurteilend und vor allem geschmacklos seien. Und als ob er die Antwort nicht schon wüsste, fragte er:
„Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob Twitter die Menschen doof macht oder nur ohnehin vorhandene Doofheit sichtbar.“
Ich finde diese Frage aber gar nicht soo interessant. Interessanter finde ich die Sichtweise auf Twitter, die sie provoziert haben muss. Es ist eine Sichtweise, die ich nicht teile, nicht teilen kann, denn ich bin nicht objektiv. Als Twitterer bin ich in Twitter drin, es gibt nur eine Sichtweise, die mir sinnvoll erscheint, die meiner „Timeline“. Also jener Ort, an dem alle Tweets chronologisch auflaufen, so, wie ich sie abonniert habe.
Stefan Niggemeier und ich haben also eine völlig verschiedene Sichtweise auf Twitter. Das habe ich zwar auch mit allen anderen Twitterern, aber der Witz ist, dass die von Niggemeier, nochmal eine spezielle Sichtweise ist. Ich will das illustrieren. Stefan Niggemeier schaut etwa so auf Twitter:
[Bild von vernetzten Irgendwassen. Viele Linien, keine Übersicht, kein Gebrauchswert.]
Oder sogar so:
[Anderes Bild von vernetzten Krams, das noch weniger Informationswert hat, als das erste.]
Das, was wir hier sehen, ist eine Netzwerkvisualisierung. Sie macht alle Verbindungen zwischen allen Knoten eines Netzwerks sichtbar. Überall im Internet, wo sich Netzwerke bilden, kommt jemand auf die Idee, diese Netzwerke seien doch sehr spannend, das müsse man doch mal anschaulich machen. Wenn man die dritte Netzwerkvisualisierung gesehen hat, hat man eigentlich alle gesehen. Ihr informationeller Mehrwert ist nahe bei 0. Menschen lieben die holistische, vogelperspektivische Sicht auf Dinge, das wurde ihnen so bei gebracht und so wollen es einige nicht wahr haben, dass genau diese Sicht bei Netzwerken nutzlos ist. Netzwerkvisualisierungen sind sehr langweilig, so langweilig, wie die Tweets schlecht sind, die Niggemeier gefunden hat, indem er alle Tweets, die es gibt, – ich vermute mal – nach dem Stichwort „Kachelmann“ durchsucht hat.
Es gibt keinen sinnvollen Blick von außen auf Twitter. Genau so wenig wie auf Blogs oder das Internet im allgemeinen. Der Blick von außen ist quatsch. Er ist immer unübersichtlich, zeigt das Dumme, das Nutzlose und Uninteressante. Er sagt nichts, aber auch gar nichts aus. Das liegt daran, dass es innerhalb von Netzwerkstrukturen nicht darauf ankommt, was was es gibt/was man sehen könnte (Vollständigkeit/Metasicht/Vogelperspektive), sondern darauf, was man nicht sieht (Filter).
Distributed Reality
Ich habe keinen einzigen der Tweets, die Stefan Niggemeier hier vorstellt, in meiner Timeline gehabt, denn ich folge keinem dieser Leute. Mein Twitternetzwerk ist von mir ausgesucht und es ist so unique wie ein Fingerabdruck. Es mag sein, dass irgendwo schlechte Witze gemacht werden, ich bekomme das aber nur in den seltensten Fällen mit. Es gibt nicht „das Twitter„. Es gibt „Mein Twitter“ und „Dein Twitter“ aber eine holistische Perspektive hat eigentlich nichts mehr mit Twitter selbst am Hut. Die holistische Perspektive ist keine twittereigene Pespektive, sondern eine positivistisch/ontologische, vielleicht eine journalistische.
Auf einer Session auf dem Politcamp habe ich diese Organisationsweise von Realität, die bei Twitter vorherrscht, „Distributed Reality“ genannt. Einen Teil meiner Realität (mein mentales Exoskelett) ist meine Timeline. Sie besteht aus den Statusnachrichten verteilter Realitätseinspeiser, meiner handverlesenen Followings. Sie teilen ihre Realität mit mir und ich aggregiere diese unterschiedlichen Realitäten in meiner. (Die dem zugrunde liegenden Mechanismen der digitalen Datenorganisation habe ich hier genauer analysiert.)
„Distributed Reality“ ist nicht einfach die Funktionsweise des Followings bei Twitter. Es ist auch die Verteilung von RSS-Streams, auch das Zeitungsabonnement (In einem sehr eingeschränkten Maß) und eigentlich ist es vom Prinzip her noch viel älter. Streng genommen war „Distributed Reality“ schon immer unsere sozial konstruierte Realität, die wir aus den Versatzstücken von Weltanschauungsfragmenten von Eltern und Freunden filterten. Der radikale Konstruktivismus und vor allem auch seine medientheoretische Wendung bei Siegfried J. Schmidt geben seit langem darüber Aufschluss. Allerdings gab es bisher nur eine sehr begrenzte Anzahl von Realitäts-Ressourcen und noch keine Technologien, die eine exponentielle Anzahl dieser Ressourcen handhabbar machen würde. Außerdem waren bisher nur „Arten zu filtern“ vermittelbar, nicht die Filter selbst und ihre soziale Verschaltung.
Jedem seine eigene Wikipedia!
Aber kommen wir zunächst zu etwas anderem: Im Zuge des Streits um die Löschfertigkeit mancher Wikipedianer wurde von diesen oftmals die Möglichkeit eines so genannten „Forks“ ins Spiel gebracht. Ein Fork ist eine Verzweigung oder Abspaltung. Man nimmt den aktuellen Stamm eines Projektes und führt ihn in einer alternativen Version parallel zum Original fort. Wenn die Kritiker der Wikipedia mit derselben unzufrieden seien, so die Wikipedianer, sollen sie doch eine solche Parallelentwicklung voran treiben, mit der sie glücklicher seien. Die Lizenz der Wikipedia erlaubt es jedem, so vor zu gehen.
Die Probleme aber liegen wo anders. Zunächst ist die Software, auf der Wikipedia läuft, das Mediawiki – ein unbeweglicher Dinosaurier. Es ist sehr kompliziert hier eine Datenmigration zu bewerkstelligen. Von der nötigen Infrastruktur, die solch ein Projekt erfordern würde, mal ganz abgesehen. Vor allem aber ist es natürlich nicht zu schaffen, ein Projekt dieser Größe in Schuß zu halten, ohne eine zumindest ähnlich große Community zu haben. Daran kranken auch all die bisherigen, wenig populären Forks der Wikipedia.
Tim Weber, alias Scytale, hat nun das Projekt Levtation auf die Beine gestellt: Die Wikipedia soll in ein Git-Repository importiert werden und von nun an auf dieser Basis ihr weiteres Leben fristen. Nein, nicht das eine, sondern zwei, vier, viele Leben. Denn Git macht einen Unterschied.
Git ist zunächst ein Versionskontrollsystem. Programmierer benutzen so eine Software, um zusammen an einem Softwareprojekt zu arbeiten. Das Versionskontrollprogramm passt auf, dass es da keine Inkompatibilitäten gibt, wenn zum Beispiel zwei Leute an der selben Datei arbeiten wollen. Es sorgt außerdem dafür, dass jede gespeicherte Zwischenversion genaustens protokolliert wird, so dass man jederzeit zu einem früheren Zeitpunkt „zurückspringen“ kann.
Die Besonderheit von Git ist, dass jeder, der Änderungen an Dateien vornehmen möchte, das nur kann, indem er einen kompletten Klon des Originals macht, also einen vollständigen Fork. Sobald die Änderungen gemacht sind, kann seine eigene Instanz der Stamminstanz die Änderungen feilbieten und diese kann entscheiden, die Änderungen bei sich aufzunehmen. Viele wichtige Projekte werden so verwaltet, zum Beispiel der original Linuxkernel, betreut von Linus Torvald. Eine Projektplattform, die Projekte aller Art für jeden erschwinglich hosten kann, ist Github. Dort werden auf einem Server zentral viele verschiedene Git-Repositorys gelagert und verwaltet.
Etwas ähnliches wie Github stellt sich auch Tim Weber vor. Omnipedia, wie er seine auf Git basierende Wikipedia nennt, wäre zunächst und per se aufgespalten in so viele Omnipedias, wie es Benutzer gibt: „Jeder hat seine eigene Omnipedia.“ Auf – zunächst einem zentralen Server verwaltet jeder „seine eigene“ Omnipedia, die aber verschaltet ist mit vielen anderen:
„Und zwar kann sich jeder ein paar Leute aussuchen, deren Arbeit er für gut befindet. Alle Änderungen, die diese Personen an ihren jeweils eigenen Omnipedien machen, werden entweder vollautomatisch in die eigene übernommen, oder nach vorheriger Rückfrage. (Git-Nutzer erkennen das Schema wieder: Man pullt gute Sachen von anderen Leuten.) Und wer jetzt verwirrt sagt „aber dann muss ich ja tausenden Leuten followen, um eine halbwegs vollständige Omnipedia zu haben“, der hat den Knackpunkt noch nicht verstanden: Die Leute, denen du followst, followen ihrerseits wieder guten Leuten. Und so weiter. So ergibt sich eine Art „Hierarchie von Geschmäckern“ von Leuten, die mit dem, was sie in ihrer Omnipedia haben wollen, halbwegs in die gleiche Richtung driften.“
Weiters wäre zu vermuten, dass sich populäre Omnipediastämme bilden würden: Einen konservativen, einen liberalen, einen popkulturell fokussierten, einen für Klassik, einen naturwissenschaftlichen, einen esoterischen, einen mit allen Verschwörungstheorien und hoffentlich auch einen für Kreuzberg, den ich mir abonniere, weil dort jedes Café, jede Straße und jedes Kaugummi auf dem Bürgerteig verzeichnet ist. Ich kann mir meine Realität aus verteilten Realitäten zusammen follown. Jeder wäre seiner eigenen Realität Schmied. Die meisten beließen es sicher bei zwei, drei Followings populärer Omnipediastämmen. Andere würden das Archiv ihrer Weltperzeption bis in’s hinterletzte Detail durchdesignen, zum Beispiel ich.
Das alles ist keineswegs neu. Wir haben schon immer unsere Realität sozial konstruiert. Das fängt beim Elternhaus an. Ist man katholisch, protestantisch oder atheistisch erzogen? Wächst man auf dem Dorf auf oder in der Stadt auf? In welcher Region? Was für Freunde macht man in seinem Leben und warum? Vor allem auch: mit welchen Medien kommt man in Berührung? (Damals vor allem Massenmedien) Die Parameter der eigenen Weltperzeption und ihre an sie geknüpften Identitätskonstruktionen sind ein russisch Roulette und die Aufklärung tat gut daran, sie transzendieren zu wollen, wo immer man auf sie traf (Objektivität). Wenn wir ehrlich sind, dann konnte sich auch nichts anderes nicht leisten. Wahrheiten waren teuer, denn sie mussten gedruckt oder später aufwändig gebroadcastet werden. Wir hatten doch nix!
Fork statt Einigung!
Doch heute, über 500 Jahre nach dem Weltaufgang der Gutenberggalaxis, in welcher wir noch mit einem Bein verhaftet sind, drehen sich alle Vorzeichen um. Das Streben nach der einen Wahrheit (und auch ihre abzählbaren Alternativen) gehören der Vergangenheit an. Wir lassen einander Wahrheiten haben. Wir werden einander tolerieren, statt uns zu einigen. Wir werden forken statt auf eine Wahrheit zu pochen. Wir werden in einer neuen Welt leben, jeder in seiner und doch gemeinsam, absolut gemeinsam, gemeinsamer denn je – nur nicht mit allen.
Um es ganz offen zu sagen: Ich bin froh, dass wir nicht alle Dinge demokratisch regeln. Ich glaube nicht, dass ich mich einem noch so basisdemokratischen Beschlusses beugen möchte, wenn es um die aktuell zu tragende Frisur geht. Auch meinen Kunstbegriff mag ich nicht zur Abstimmung stellen. Wir regeln heute schon die meisten Dinge undemokratisch, nämlich individualistisch und das ist auch gut so. Wenn wir unsere Weltperzeoption einer Distrubuted Reality unterwerfen, werden es derer umso mehr. Je mehr Dinge wir in Informationen transformieren, um so mehr lassen sich unseren Ansprüchen nach verändern.
Heute sitze ich in der U-Bahn und höre Podcasts, anstatt das Gebrabbel der anderen Fahrgeäste oder das Quietschen des Schienennetzes auf mich einprasseln zu lassen. Dabei schaue ich auf mein Telefondisplay, wo die neusten Twitternachrichten herunter rauschen. Ich suche mir heute bereits lieber selber aus, mit wem ich in der U-Bahn sitze. Julian Oliver hat ein Programm für Smartphones entwickelt, The Artvertiser, das Werbetafeln in seiner Umgebung erkennt und durch Kunst ersetzt, sofern man sie durch das Telefon betrachtet. Wie unfassbar wenige Jahre wird es dauern, bis ich am Alexanderplatz vorbei laufen kann und das phänomenal hässliche Alexa-Gebäude in Berlin durch einen selbst definierten Layer ersetzt wird? Oder durch meine E-Mails? Was wird da noch auf uns zukommen? Vielleicht werde ich nur die liebenswerten Seiten des Freundes genießen und den Rest Rest sein lassen? Endlich ein Leben als Wunschkonzert. Endlich das Leben, in dem man sich nur die Rosinen heraus picken darf! Legen wir endlich das protestantisch, karge Ethos der nietzscheanischen Sklavenmoral ab und fordern das Unanständige! Denn es ist vielleicht morgen schon möglich!
Wir werden zu Autoren unserer Realität. Nein, besser. Wir werden zu Verlegern unserer sozial konstruierten Realität. Wir suchen uns die Autoren unserer Sicht auf die Dinge aus. (Das ist viel unanstrengender als sich alles selbst auszudenken.) Und was uns nicht passt, wird gnadenlos ignoriert. Oder eben neu geschrieben. Alles wird sich wandeln und zwar nicht zum besseren, sondern – viel besser – zum jeweilig besseren.
PS: Ich weiß, ich habe jetzt dick aufgetragen. Deswegen hier noch ein paar zurückrudernde Anmerkungen, damit mich niemand einweist:
1. Nein, wir werden die Demokratie nicht morgen abschaffen. Sie wird sich verändern und sicher bei vielen Dingen an Land verlieren aber wir werden sie noch sehr lange brauchen. Vor allem so lange wir noch in dem alten Tanker Nationalstaat leben. Womöglich implementieren wir demokratisch gebeugte Zwischenformen der „Distributed Reality“, sowas wie Liquid Democracy, was die Piratenpartei dankenswerter Weise gerade testet.
2. Ich weiß auch, dass solch eine Welt nur sehr bedingt von heute auf morgen zu bewerkstelligen ist. Nicht jeder hat die reale Macht dazu, seine Realität selbst zu gestalten. „Unfollow Finanzamt“ wird nicht so einfach funktionieren. Allgemein sei angemerkt, dass wir Abhängigkeiten (z.B. finanzielle) so weit reduzieren müssen, wie es nur irgendwie geht (z.B. durch ein bedingungsloses Grundeinkommen). Wir brauchen nach der hoffentlich bald durchgesetzten Netzneutralität also schon bald eine Reallifeneutralität.
3. Nein, das ist keine Lösung für das Datenschutzproblem. Es ist viel mehr als das. Es ist die endgültige Auflösung der Identität und damit die Freigabe der Konstruktion des Anderen, des Nächsten und seiner Freundin gleich mit. Jan Schmidt führte in einem Vortrag letztes Jahr auf der re:publica den Umgang der Holländer mit den ihnen eigenen groß verglasten und vor allem gardinenlosen Fenstern an. Es gäbe dort eine Kultur des Trotzdem-nicht-hereinschauens. Ein sich selbst auferelegter Filter, könnte man sagen. Ich träume davon, dass es eine Kultur des wohlwollenden Zusamenschraubens der eigenen Identitätswahrnehmung des Anderen geben wird. Vielleicht aber auch nicht. Doch selbst dann fiele jeder Grund zu Meckern weg. „Mach dir doch n Fork von mir„, wäre schließlich die einzig legitime Antwort.
(Original erschienen auf der Website von FAZ.net)
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