Ich glaube, ich muss demnächst mal etwas über das Philosophieren in Blogs schreiben. Es funktioniert natürlich anders als das Philosophieren in Büchern. In Blogs kann man Gedanken ausprobieren, die noch nicht fertig gedacht sind. Man stellt eigentlich immer nur etwas zur Diskussion, einen interessanten Gedanken, einen Zusammenhang, eine Idee. In der perfekten Blogwelt wird das dann aufgenommen und angereichert, mit den Ideen, Kritiken und Erweiterungen der Leser und anderer Blogger.
Mein letzter Text erschien in der perfekten Blogwelt und ich freue mich über die qualifizierte Kritik zu der verschriftlichten Version meines Vortrags: „Das radikalen Recht des Anderen„.
Felix Neumann hat meinen Text tiefer durchdrungen, als ich zu hoffen wagte. So weit, dass er selbst meine untergründige nietzscheanische Ader freilegt hat. Die steckt tatsächlich in meinem Denken, wobei ich Entwarnung geben kann: ich spiele mit dieser nietzscheanischen Radikalität nur, empfinde sie als ein erkenntnisförderndes Werkzeug, bewahre aber immer genug Distanz, um nicht in einen nietzscheanischen Eifer zu verfallen.
Und so ist auch meine von Felix zu recht vorgeworfene politische Indifferenz oder Unschärfe zu verstehen. Ich habe zwar am Anfang des letzten Textes angemahnt, ihn nicht politisch zu lesen aber natürlich hat Felix recht, wenn er mir Vorwirft, dass er trotzdem in politischen Forderungen gipfelt. (Was wäre schließlich eine unpolitische Forderung?)
Mein Insistieren auf das Nichtpolitische meines Textes meinte aber tatsächlich eher diese nietzscheanische Radikalität, die es mir erlaubt, neue gedankliche Wege im Versuchsaufbau durchzudenken, ohne, dass dabei etwas zu Bruch geht. Es geht also eher darum, dass der Text – inklusive der Forderungen – nicht als umsetzbare, von mir als realistisch einzuschätzende Realpolitik bewertet werden, sondern als Entwurf im luftleeren Raum. Ein Zusammenspinnen einer Ethik, die sich zunächst gar nicht um Realitätsnähe oder Umsetzbarkeit schert. Das ist zwar wohlfeil, vielleicht sogar verantwortungslos, aber so lange ich nur ein kleiner Blogger bin, nehme ich mir diese Gedankenfreiheit.
(Für die, die es interessiert: Ich habe übrigens tatsächlich einen dezidiert politischen Ansatz als Resultat der Kontrollverlustthesen vorgelegt, der zwar auch recht abstrakt ist, der sich aber durchaus als Anknüpfungspunkt echter politischer Forderungen begreift: Die Plattformneutralität. Teil 1, Teil 2, Teil 3)
Aber kommen wir zum eigentlichen Kern von Felix‘ Kritik. Er vergleicht meine Ethik mit Nietzsches Idee des Übermenschen. Der Übermensch ist derjenige, der ja sagt, zur Welt, derjenige, der ohne Seil und doppelten Boden lebt. Der das „Schicksal umarmt“, wie Felix es ausdrückt. Diese „Herrenmoral“ (in Abgrenzung zur „Sklavenmoral“ – einem Begriff, für dessen Verwendung ich einst heftig angegriffen wurde, zu dem ich aber stehe.), wie Nietzsche sie formuliert, erfordere eben einen neuen Menschen. Mit einer ähnlichen Überlegenheit wie dieser neue Mensch müsse eben auch der Mensch der Filtersouveränität beschaffen sein, wenn er dem Anderen ausgeliefert ist:
Die totale Filtersouveränität des Anderen ist eine Utopie: Eine Utopie, die auf einen informationellen Übermenschen angewiesen ist, der keine Scham, kein Bedürfnis nach Intimität kennt, der so abgehärtet ist, daß keine Beleidigung, keine allzu ehrliche Meinung des Anderen durch seine (nicht nur technischen) Filter schlüpft.
Ich würde viel weiter gehen: ein Mensch, der fähig ist, die asynchrone Beziehung zum Anderen für sich zu akzeptieren. Der keinen Neid kennt, keine Eifersucht und der im Geben seine Erfüllung findet. Also bitte gleich einen levinasschen Übermenschen. (Der – wenn man es sich genau besieht – gar nicht soo weit weg ist, vom nietzschen‘.)
Ich will aber auf diese schwierige Kritik nicht einfach antworten. Sondern dreifach:
Erstens: Nein! Nicht Post-Privacy ist die Utopie. Sie ist der Zustand auf den wir zusteuern. Utopien sind im Gegenteil das, was wir jetzt brauchen, um mit dieser Situation umzugehen. Wir brauchen einerseits eine Auspolsterung unserer Gesellschaft (Beispiel: BGE), eine Entwaffnung der Menschen zueinander (Herrschaftsfreiheit) und eine neue, tiefere, kulturelle Toleranz. Das alles sind Utopien, ja. Post-Privacy ist – jedenfalls für mich – erst in zweiter, nachrangiger Weise ein Zustand mit utopischen Potential. (Zu Utopie und Post-Privacy werde ich aber mal gesondert etwas schreiben müssen.)
Und hier wären wir schon bei zweitens:
Ich glaube, die Beziehung zum Anderen ist nicht halb so utopisch wie es den Anschein hat.
Hier bewege ich mich auf dünnem Eis, denn das, was ich hier anbieten kann, sind nur ein paar Beobachtungen, die für mich die Möglichkeit eines anderen Menschenbildes (das ist ja gerade Mode) aufscheinen lässt.
Die asynchrone Beziehung zum Anderen hat Levinas nicht als Zukunftsvision beschrieben. Es mag sein, dass man es nie schafft, dem anderen zu genügen, doch der apriorischen Verschuldung beim Anderen sind alle unsere ganz alltäglichen sozialen Handlungen per se ausgeliefert. Ohne dieses Sich-Ausliefern und Sich-Überstürzen zum Anderen – das hat wiederum Derrida schön gezeigt – ist Sprache gar nicht möglich. Es braucht den Kredit vor der Kreditwürdigkeit um anzunehmen, dass der Andere die Wahrheit spricht, auch dann wenn er lügt. (Die Lüge ist gar nicht möglich, ohne das – vor allem Wissen – Gelaubte.)
Ohne den ungerechtfertigten, rückhaltlosen Kredit, den man dem Anderen einräumt, würde man sich in einer endlosen Situation der doppelten Kontingenz (Luhmann) festfahren. Das asymetrische Ausgeliefertsein an den Anderen, ist die anthropologische Ursituation. Sie mag uns nicht bewusst sein, aber sie ist tief in uns am Werk und ohne sie wären wir zu keiner Kommunikation fähig.
Der kürzlich 80 Jahre alt gewordene Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde schrieb in seinem Buch „Staat, Gesellschaft, Freiheit„:
Das ist das große Wagnis, das er [der Staat], um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt, mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren versuchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.
(via: RA Stadler)
Der Staat, gebaut auf das rückhaltlose Vertrauen auf seine Bürger? Lass das mal einen Rechtspositivisten hören. Aber genauer betrachtet, ist das evident. Wer glaubt, man könne ein Zusammenleben ausschließlich auf „Sollensordnungen“ aufbauen, hat sich noch wenig Gedanken um das Menschsein gemacht.
Ich würde Böckenfördes Beobachtung allerdings etwas anders wenden: Nicht die Homogenität und die aus ihr resultierende moralische Substanz ist es, die das Zusammenleben ermöglicht (das wäre ja nur die spiegelbildliche aber ungeschriebene Variante des Gesetzes), ohne, dass der Staat alles regeln muss. Vielmehr ist es das Stattgeben der Ethik des Anderen. Etwas das wir nicht merken, weil es so normal ist. Etwas, das man nur sieht, wenn es schief geht, dass aber die Menschen untereinander überhaupt zusammenhält. Nicht als moralische, homogenisierende Keule, die über dem Einzelnen schwebt (das gibt es auch, ja, ist aber meines Erachtens überschätzt), sondern das Einlassen auf und die Anerkennung der Moral des Anderen.
Ganz konkret in Bezug auf die Privatsphäre könnte man hier die großen gardinenlosen Fenster der Niederländer anführen, in die die Leute nicht hineinschauen. Man kann das als normatives „das tut man nicht“ interpretieren, man kann es aber auch als die Anerkennung des Bedürfnis nach Privatheit des Anderen betrachten. Des jeweils Einzelnen, nicht der Regel.
Wir merken: Wir sind hier weit, weit weg von Kant. Und da will ich auch hin.
Denn noch deutlicher wird all das im Internet. Die Menschen schreiben in Enzyklopädien und produzieren Blogeinträge, teilen Links, teilen sich mit, teilen. Einfach so. Sie tun all das noch vorsichtig, aber vermehrt. Sie tun das unentgeldlich, aber zum Nutzen von jedem, den das interessiert. Woher kommt diese plötzliche Großzügigkeit? Es gibt keine moralische Regel, des „Teile dein Informationen mit den anderen!„, im Gegenteil: man wird in dieser Gesellschaft konditioniert, sein Wissen und seine Informationen für sich zu behalten: „Darüber spricht man nicht„, „das geht niemanden etwas an„, „Das ist meins!„, „Wissen ist Macht„, etc.
Und dann gibt es Flattr. Während die Inhalte hinter Paywalls versauern, funktioniert anscheinend das freiwillige Geben. Und auch hier: weder ein sozialer, noch rechtlicher Zwang bringt die Menschen dazu, Flattr zu benutzen, sondern einzig das Gefühl des asymmetrischen Gebenwollens. Einer ganz und gar levinasschen Ver-Antwortung. Und hier wird es plötzlich schwer mit einem „Man tut das halt so“ zu argumentieren, denn der das Flattrn ist anonym. Niemand schaut mich schal an, wenn ich nicht zu geben bereit bin.
Was, wenn Levinas recht hat? Was, wenn der Mensch tief im Innersten seines Seins ethisch wäre, nicht im kantschen Sinne, sondern in dem Sinne, dass er ohne Vernunft und Berechnung großzügig ist? Dass er das Geben liebt, dass er sich im Geben wohlfühlt, nicht um selbst etwas zurück zu bekommen, nicht als Investition, sondern als Drang? (Ich habe Flattr schon einmal in Bezug auf Kontrollverlust und Marcel Mauss „Sur la donne“ als Geschenkökonomie beschrieben.)
Andersherum: Was, wenn die Strukturen der Welt: ihre Enge, ihre Begrenztheit, ihr Zwang zu Grenzen und Gesetzen den Menschen haben gar nicht anders werden lassen, als egoistisch? Oder jedenfalls das Egoistische überbetont haben?
Und hier sind wir bei der dritten Antwort angelangt: Ja, verdammt! Der tatsächlichen Möglichkeit des Übermenschen.
Um noch einmal auf Flattr zurückzukommen: Flattr ist nichts anderes als der Versuch, durch die Möglichkeiten im Internet, das Geben so einfach wie möglich zu machen. Es stellt eine Infrastruktur zum Schenken bereit, die die mentalen und sonstigen Transaktionskosten für freies, anonymes Geben so weit senkt, dass mehr Leute bereit sind zu geben, als vorher. Mehr nicht. Es gibt kein Gratifikationssystem, keinen Nutzen des Gebens, außer der Gabe selbst. Die tatsächliche Motivation zu geben, muss also im Menschen selbst angelegt sein.
Aber zurück zu uns: wir kommen aus einer Welt der Schranken. Überall mussten Grenzen aufgestellt werden, um uns von einander abzugrenzen, um Güter von uns Abzugrenzen, weil alles Knapp ist: Raum, Güter wir und damit Freiheit. Nur weil die Freiheit des einen, die Freiheit des Anderen beschränken kann, in dieser Welt, müssen wir Grenzen ziehen und Regeln aufstellen, brauchen wir die Wissenschaft der knappen Güter, etc.
Das Internet erlaubt nun, so die These, andere teile des menschlichen Seins leben zu können. Wie ich bereits schrieb: im Internet endet die Freiheit des Anderen nicht an der Meinen. Unsere Freiheiten sind in dieser digitalen Welt unendlich. Das Internet erlaubt uns also Strukturen ohne Grenzen einzuführen. Und damit erlaubt es uns eine neue Großzügigkeit. Eine Großzügigkeit, die bereits in uns angelegt war, die wir aber zum teil verlernen mussten, um in der Welt der Grenzen zu überleben:
„Techies were making the syllogism, if you put new technology into an existing situation, and new behaviour happens, then that technology caused the behaviour. But I’m saying if the new technology creates a new behaviour, it’s because it was allowing motivations that were previously locked out. These tools we now have allow for new behaviours – but they don’t cause them.
Der nietzscheanisch-levinassche Übermensch – der großzügige, der freie, der das Schicksal umarmt – war schon immer da, in uns, als Möglichkeit. Wir bekommen jetzt erst die Kommunikationsinfrastruktur und damit die Freiheit, ihn auszuleben. Das ist die eine Seite.
Das gilt aber auch und in erster Linie für die Filter: dass wir filtern können, dass wir in einer selbstbestimmten „Distributed Reality“ leben können, ist erst seit dem Internet möglich (oder wird nach und nach möglich). Warum also noch bestimmte Kommunikation verbieten, wenn die einzig legitimierende Instanz, der Empfänger mit seiner Query, alles in der Hand hat, was er sich antut. (Christian Heller hat dafür mal die „Ressource Ignoranz“ angeführt.)
Der Kontrollverlust – so sehr er uns auf der einen Seite Sicherheiten, Grenzen, Strukturen und Homogenitäten – nimmt, spielt uns auf der anderen Seite all diese neuen Möglichkeiten – die der Filter und die Möglichkeit der Großzügigkeit – in die Hand: und ja, wie jede Technologie sind auch dies Technologien eines neuen Menschseins. Das kann man „Übermensch“ nennen, muss man aber nicht. Wichtig ist, dass man bei allem Gejammer um die den Verlust von Privatheit und „Eigentum“ nicht vergisst, diese neuen Möglichkeiten in Stellung zu bringen.
Man kann das verlorene Land nicht retten, aber das neu gewonnene auf den anderen Seite besiedeln. Das, was wir sind, wie wir denken, wie wir miteinander leben, wird sich dadurch verändern. Ich kann verstehen, dass das Angst macht und dass viele Leute das nicht wollen. Wer aber nur darauf schaut, was er verliert, wird nur den Verlust, nicht aber den Gewinn davon tragen.
Und genau hier sehe ich die Notwenigkeit von Politik: eine Welt zu bauen, die die neuen Möglichkeiten für alle ausschöpft und die Gefahren durch die Verluste mildert.
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