Als 2003 die amerikanischen Panzer bereits in Bagdad einrollten, hielt der irakische Informationsminister Muhammad Saeed al-Sahhaf nur wenige hundert Meter davon entfernt eine Pressekonferenz, in der er genau diese Tatsache bestritt. Die Amerikaner, davon zeigte er sich überzeugt, seien kurz vor der Kapitulation. Ein paar Tage zuvor erzählte er, dass die amerikanischen Soldaten zu hunderten Selbstmord begingen, sich also vor allem selbst abschlachteten – kein Grund zur Sorge für die irakische Regierung also. Diese und andere aggressive Leugnungen der offensichtlichen Realität brachte ihm schließlich den Spitznamen „Comical Ali“ ein. So absurde Propaganda konnte im Westen nur noch als Entertainment verstanden werden, nicht mehr als ernstzunehmender Versuch der Lüge.
Comical Ali hat seitdem seinen Job bei Saddam Hussein aufgegeben, sich einen amerikanischen Haarschnitt wachsen lassen und seinen Namen in Sean Spicer geändert. Das jedenfalls könnte man glauben, wenn man derzeit die Nachrichten aus den USA verfolgt.
Doch halt. Da war ja noch was? War nicht der ganze Irakkrieg selbst aufgrund dreister Lügen zustande gekommen? War die Bush-Regierung auch nur im Ansatz aufrichtiger? Was ist so komisch and Comical Ali, was soll schon anders sein an Sean Spicer als an Ari Fleischer, dem damaligen Pressesprecher von George W. Bush? Was soll das Gerede von Post-Truth und Fake-News? Das Wasser ist nass, der Himmel ist blau und Politiker lügen.
Nein. Es gibt einen Unterschied. Ich persönlich habe den angeblichen „Beweisen“ zu den Massenvernichtungswaffen im Irak nie geglaubt und den meisten, die ich kenne, geht es genauso. Es lag aber an der Struktur der Situation, dass ich – und alle anderen – keine Möglichkeit hatten, der Bush-Regierung ihre Lügen nachzuweisen. Versuchen Sie mal zu beweisen, dass es keine rosa Elefanten gibt.
Es gibt unterschiedliche Arten des Lügens. Die Bush-Regierung log so, dass es in der Situation unmöglich war, sie zu widerlegen. Hätte es einen echten harten Beweis gegeben, dass Hussein KEINE Massenvernichtungswaffen hatte, wäre die Argumentation von Colin Powell vor der UN zusammengebrochen und alle Beteiligten hätten sich blamiert. So haben sie sich erst blamiert, als der Krieg bereits gelaufen war. Der Rest ist Geschichte.
Die Lüge unter Bush hatte nur deswegen eine Chance und wurde nur dort eingesetzt, wo die Wahrheit unklar war. Somit hat diese Art zu Lügen einen positiven Bezug zur Wahrheit. Sie erkennt die Vorherrschaft der Wahrheit an, indem sie die Lüge nur dort einsetzt, wo die Wahrheit nicht sein kann. Kommt die Wahrheit raus, muss die Lüge ihr den Platz einräumen. Sie ist der Doppelgänger der Wahrheit, der Hochstapler, der bei der Rückkehr des Originals das Feld räumen muss.
Was die Lügen von Comical Ali, Sean Spicer und Donald Trump besonders macht, ist, dass es sie auch dort lügen, wo jeder Mensch die Lüge als solche leicht erkennen und enttarnen kann. Und dass auch dann die Lüge nicht einräumt wird, wenn auf diesen Umstand hingewiesen wird. Trump kann sagen, dass es aufhörte zu regnen, als er seine Inaugurationsrede hielt, obwohl jede/r im Fernsehen das Gegenteil gesehen hat. Spicer kann mit einem „Period“ die Evidenz von Fotobeweisen leugnen, die alle bereits gesehen haben. Die Trump-Regierung produziert am laufenden Band Lügen, die so dreist sind, dass man sich schon doof dabei vorkommt, sie zu widerlegen.
Dieses besondere Verhältnis (oder Nicht-Verhältnis) zur Wahrheit ist das Neue, das es meines Erachtens berechtigt nach neuen Begriffen zu suchen. Man kann sicher darüber streiten, wie gut es die Begriffe „Fake-News“, „Post-Truth“ oder „Post-Faktisches Zeitalter“ treffen und wie sinnvoll ihre Anwendung ist. Aber diesen Umgang mit der Wahrheit einfach nur „Lüge“ zu nennen und weiter zu gehen, wird der Sache nicht gerecht.
„Fake-News“ ist nicht einfach nur ein neuer Name für „Propaganda“, „Alt-Right“ sind nicht einfach nur „Neonazis“ und der Hinweis, dass in der Politik schon immer gelogen wird, reicht eben nicht aus, unsere Situation zu erklären. Wir dürfen es uns an dieser Stelle nicht zu einfach machen, denn die Tatsache, dass wir es mit etwas Neuem zu tun haben, ist auch der Grund, warum die bisherigen Strategien dagegen nicht geholfen haben. Wir brauchen neue Strategien und dafür müssen wir zuerst die Mechanismen verstehen lernen, mit denen wir es zu tun haben. Wir brauchen neue Begriffe, mit denen wir diese Unterscheidungen klar machen können und wir müssen genau sein und darauf achten, dass die Begriffe nicht wieder verwischt werden, denn das Verwischen aller Kategorien und Begriffe ist genau die Strategie der neuen Rechten, mit der wir es zu tun haben. 1
Ich schlage vor, die Lügen der Bush-Regierung (oder auch die von Merkel im NSA-Untersuchungsausschuß) „politische Lüge“ zu nennen. Diese Lüge erkennt die Existenz einer von ihr unabhängigen Wahrheit implizit an, indem sie sich nur dann traut, ausgesprochen zu werden, wo die Wahrheit nicht – oder nur sehr schwer zu ermitteln ist. Die politische Lüge tarnt sich als Wahrheit, sie stellt sich vor die Wahrheit. In ihrer Praxis erkennt sie deswegen die Norm an, dass man immer die Wahrheit sagen sollte. Wenn die politische Lüge sich erwischen lässt, hat sie Konsequenzen für die Lügner/innen.
Die Lüge der Trump-Regierung könnte man mit Kellyanne Conway „Alternative Wahrheit“ nennen. Das klingt erstmal verharmlosend, sie ist aber ungleich schlimmer als die normale politische Lüge. Diese Form der Lüge will sich nicht anstelle der Wahrheit setzen, sondern setzt sich einfach daneben, selbst wenn diese im Raum ist. Auch sie beansprucht die wirkliche Wahrheit zu sein, indem sie die belegbare Wahrheit einfach als „Fake News“ bezeichnet. Es ist wie in den Komödien, wenn der schlecht verkleidete Doppelgänger auf sein Original trifft und behauptet, das Original habe sich als er verkleidet. Es könnte lustig sein, wenn es nicht so gefährlich wäre.
Denn die alternative Wahrheit tut etwas viel schlimmeres als lügen. Sie entwertet die Norm, dass Lügen Lügen sind und Wahrheit Wahrheit. Und das hat eine enorm erodierende Wirkung auf das kulturelle Fundament unserer Gesellschaft. Wenn wir diesen Unterschied als beliebig preisgeben, verlieren wir die Möglichkeit über alles mögliche zu reden und zu streiten. Wenn Worte nichts mehr bedeuten, ist der letzte Schritt Gewalt.
Adam Curtis hat in seinem viel diskutierten neuen Film “Hypernormalisation” versucht die Ursprünge dieser Situation des Abhandenkommens der Wahrheit herzuleiten. Einer der Argumentationsstränge arbeitet sich an der unehrlichen Außenpolitik des Westens bezüglich des mittleren Ostens ab. Ich halte diese Herleitung für falsch. Die dort dargestellten Lügen sind ohne Frage schlimm und haben viel Leid angerichtet, aber es sind einfache „politische Lügen“, wie es sie in der Politik seit Anbeginn gibt.
Einen anderen Strang, den er – leider nur sehr peripher – verfolgt, sieht die Usprünge der Post-Truth-Ära in der Propaganda der späten Sowjetunion. Schon dort wurden für alle offensichtliche Wahrheiten geleugnet, bis niemand mehr irgendwas glaubte. Ich habe das Gefühl, dass er hier viel eher auf der richtigen Fährte ist. Alleine schon, weil er damit nicht alleine ist. Seit Trump unser Leben trollt bekam ich häufig zu hören, dass seine Art zu lügen an die Sowjetunion und an Putin erinnere.
Marina Weisband weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der Zweck der alternativen Wahrheit eben nicht sei, die Menschen von den eigenen Lügen zu überzeugen (was hieße, die Wahrheit zu ersetzen), sondern sie mürbe zu machen, Zweifel und Unsicherheit zu sähen und sie dazu zu bringen sich vom politischen Geschehen abzuwenden. Man könnte es ökonomisch ausdrücken: Es geht darum, die Kosten für den Glauben an die Wahrheit soweit zu erhöhen, dass entweder die Lüge akzeptiert wird, oder die Leute der Wahrheit gegenüber indifferent werden. “Wer weiß schon, was wahr ist. Lügen doch eh alle!”
Und nun haben wir ein Problem. Bei totalitären oder zumindest autokratischen Diktaturen scheint diese Vorgehensweise nur logisch: Wenn du als Herrscher deine Medien und Kommunikationskanäle unter Kontrolle hast, dann kannst du dir erlauben, deine Wahrheit neben die echte Wahrheit zu stellen – dann ist die Ergänzung der Wahrheit sogar eine wirkungsvolle Machtdemonstration. Es gibt keine unterwürfigere Loyalitätsgeste, als für jemanden zu lügen. Und selbst das Auf-die-Zunge-beißen aus Angst vor Repression aller anderen ist ein Akt der Unterwerfung, der die Macht des Regimes sicherstellt. Und insofern wäre auch die “alternative Wahrheit” nichts wirklich Neues.
Aber bis vor kurzem waren die USA keine Diktatur. Trump ist eben gerade erst an die Macht gekommen, die Medien sind nicht mal im Ansatz gleichgeschaltet, sie kritisieren und factchecken alles, was er sagt und tut. Sie sprechen „Truth to Power“ wie man im englischen sagt und bis auf die vorgetragenen Feindseligkeiten aus dem weißen Haus, gibt es bisher keine Maßnahmen, die Journalisten effektiv an ihrer Arbeit zu hindern.
Ich denke, der Begriff der „alternativen Wahrheit“ muss an dieser Stelle noch mal aufgebrochen werden. Die diktatorische alternative Wahrheit beansprucht ihre Wahrhaftigkeit durch die Macht des Herrschenden. Man könnte sie deswegen die „diktierte Wahrheit“ nennen.
Doch wie beansprucht Trump die Wahrhaftigkeit seiner alternativen Wahrheit, wo ihm keine diktatorischen Mittel zur Verfügung stehen? Wie kann es eine “demokratische alternative Wahrheit” geben? Eine Wahrheit, die von der offen vorliegenden, faktenbasierten Wahrheit klar abweicht und dennoch von einer hinreichend großen Menge geglaubt wird, ohne, dass irgendjemand dazu gezwungen wird.
Die „Demokratische Wahrheit“ ist das eigentliche Rätsel der Trump-Präsidentschaft.2 Als Anhänger der Aufklärung fällt es mir schwer zu begreifen, dass so etwas überhaupt existieren kann. Ich gebe zu: es macht mir Angst.
Hier stellen sich viele Fragen: Warum kann eine aufgeklärte, plurale Medienöffentlichkeit selbst den dümmsten Lügen nichts Wirkungsvolles entgegensetzen? Warum muss Trump keine Angst haben, seine Anhänger/innen zu enttäuschen? Welche Kombination aus technisch-medialen und kulturell-sozialen Umstände mussten aufeinandertreffen, diese neue Situation herbeizuführen? Was ist Trumps Strategie, was ist sein Endgame (falls es das gibt)? Und was hat das alles mit dem Internet, dem Kontrollverlust, der Alt-Right-Bewegung und dem so genannten Dark Enlightenment zu tun?
In diesem mehrteiligen Essay versuche ich die Frage beantworten, wie es dazu hat kommen können. Im nächsten Teil, will ich mich mit dem Strukturwandel der Öffentlichkeit in der westlichen Hemisphäre durch das Internet beschäftigen.
- An dieser Stelle muss zunächst einmal eine Definition – oder sagen wir – ein Bekenntnis – zur Wahrheit stehen, gerade, weil das heute nicht selbstverständlich ist. Ja, ich glaube an die Existenz von einer unserer Wahrnehmung und Interpretation unabhängigen Wahrheit. Diese Wahrheit ist mal mehr mal weniger gut durch wissenschaftliche und andere intersubjektive Methodik belegbar. Ihre Wahrhaftigkeit stützt sich einzig auf ihre Belegbarkeit und die dafür eingesetzte Methodik. Wenn eine Wahrheit belegbar ist, gilt sie so lange, bis sie widerlegt wird.
Ich will an dieser Stelle nicht in die Tiefen der Epistemologie abtauchen, denn das soll hier nicht das Thema sein. Wer sich für diese Fragen interessiert, wird hier nicht fündig. Wer eine andere Auffassung von Wahrheit hat, der möge bitte hier aufhören zu lesen und weiter klicken, ich bin an diesen Diskussionen nicht interessiert.
↩ - Die „Demokratische Wahrheit“ ist eine Wahrheit,
1. die neben einer abweichenden, gut durch Fakten belegten, Wahrheit koexistiert und
2. die trotzdem von einer hinreichend großen Menge an Leuten geglaubt wird, die
3. dazu nicht mit externen Anreizen (Zwang, Bestechung) dazu gebracht wurden.
↩
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