FES: Das Partizipations-Transparenz-Dilemma

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Dieser Text ist im Rahmen des Arbeitsbereichs BerlinPolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung erschienen und ist eine Art Ergänzung zu dem Podium auf dem ich Gast sein durfte. Eine schön gesetzte PDF-Version zum Ausdrucken findet man hier.
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Neulich kam ich aus einem Restaurant. Ich hatte mit einem guten Freund gespeist und wir wollten noch weiter in eine Bar. Als ich zur Straße ging um ein Taxi zu rufen, hielt mich mein Freund zurück. Er zückte stattdessen sein Smartphone und startete dort ein Programm: eine Taxi-App. Nach anderthalb Minuten stand das Taxi vor uns.

Das Internet funktioniert Ende zu Ende. Es verbindet jede Person mit jeder Person, direkt, ganz ohne Vermittler. Eine Taxizentrale braucht es nicht mehr, wenn man eine App hat. Die Positionsdaten des Smartphones werden zusammen mit den restlichen Daten den Taxis in der Nähe angezeigt und können sofort bedient werden.

Für meine Generation sind Politiker, Parlamente und Parteien sowas wie Taxizentralen. Es gibt sie noch und sie dominieren ohne Frage das politische Tagesgeschehen. Aber das, wozu sie da sind, lässt sich in absehbarer Zeit besser, effektiver und vor allem direkter erledigen. Politik ist die Beantwortung der Frage, wie wir unsere Gesellschaft gestalten wollen. Viele politische Institutionen gibt es nur deswegen, weil wir diese komplexe Aufgabe bislang nicht besser abbilden konnten. Die Möglichkeiten der Vermittlung und Einbeziehung des Volkes in den demokratischen Prozess ist begrenzt durch die Möglichkeiten der zur Verfügung stehenden Medien. Im Internet macht man aber jetzt schon an vielen Stellen eine andere Erfahrung, was an Partitizipation und direkter Einflussnahme möglich ist. Zwar ist der Diskurs nicht die einzige Aufgabe der Politik, aber gerade er macht das speziell demokratische aus und ausgerechnet er bleibt derzeit unter seinen Möglichkeiten. Ich glaube, dass die Proteste von Stuttgart, Madrid bis OccupyWallStreet auch viel mit diesem Bewusstsein zu tun haben. Die Forderungen nach mehr Demokratie sind auch ein Mißtrauensvotum gegen die politischen Institutionen, den Taxizentralen der Politik.

Deswegen muss man den Piraten dankbar sein. Denn neben all dem frischen Wind, den sie in die Politik tragen, stellen sie sich vor allem als Atomwaffentestgelände der Demokratieforschung zur Verfügung. Liquid Democracy – eine Mischform aus repräsentativer und direkter Demokratie – wird von ihnen als das vielversprechendste Experiment der Demokratie von morgen vorangetrieben. Dabei kann jeder selbst abstimmen, wie bei der direkten Demokratie, kann aber auch einen Vertreter bestellen, wie in der repräsentativen Demokratie. Der Vertreter kann aber jeder andere Stimmberechtigte sein und diesem kann man die Stimme auch jederzeit wieder entziehen. Stimmen kann man für Themenschwerpunkte oder nur für bestimmte Wahlen delegieren, oder global. Und alles bleibt dabei ganz flüssig, liquide.

Es ist in der tat ein vielversprechender Ansatz, der dort versucht wird, aber er ist auch umstritten. Seit das System für die Bundespartei vor über einem Jahr eingeführt wurde, schwelt ein Streit, der die Piraten zeitweise zu zerreißen drohte und noch lange nicht ausgetragen ist. Denn das Experiment hat etwas zu Tage gefördert, das man vielleicht mit einer Naturkonstante gleichsetzen könnte. Man würde es dann das „Partizipations-Transparenz-Dilemma“ nennen.

Was war passiert? In der Piratenpartei, die sich seit ihrer Gründung auch als Datenschutzpartei sieht, konnten es viele nicht hinnehmen, dass ihr Abstimmungsverhalten öffentlich protokolliert und auf Jahre abrufbar sein würde. Das aber geht nicht anders, denn – wie der Chaos Computer Club bereits 2008 so eindrucksvoll bewies – können Wahlen am Computer nicht beides gleichzeitig sein: nachvollziehbar und geheim. Um Manipulation auszuschließen müssen Wahlen am Computer öffentlich nachvollziehbar verlaufen.

Liquid Democracy hat gezeigt, dass die Piratenpartei seit ihrer Entstehung eine logische Inkonsitenz mit sich schleppt. Ihre drei wichtigsten Grundwerte: politische Transparenz, politische Partizipation und Datenschutz wollen sich in dieser Trias nicht zusammenfügen. Man kann zwar politische Transparenz und Datenschutz durchaus zusammendenken. Die Vorraussetzung dafür aber ist, dass es eine klare Grenze zwischen „Politiker“ und „Bürger“ gibt. Während wir vom Politiker erwarten können, dass er seine Handlungen transparent macht, weil er sich qua Amt und Macht für die zweite Kategorie, dem „Bürger“ verantwortlich zeichnet, können wir im Gegenteil dem Bürger die Undurchsichtigkeit seiner Handlung zugestehen, weil sein Wirken und seine Macht begrenzt sind.

Das Modell gerät aber in ein Dilemma, wenn man beginnt, diese Grenze zwischen Politiker und Bürger mit partizipativen Elementen zu verwischen. Liquid Democracy ist angetreten, genau das zu tun. In der Welt von Liquid Democracy ist jeder zumindest potentiell verantwortlich, weil jeder Delegationen auf sich versammeln kann. In diesem System macht es schlicht keinen Sinn mehr, zwischen Politiker und Bürger zu unterscheiden – und genau das ist auch gewollt. In einer idealen partizipativen Demokratie gibt es schlicht keine Politiker mehr.

Wenn durch diese Verwischung aber das Diktum nicht mehr gilt, dass Politiker möglichst transparent, der Bürger möglichst datengeschützt sein soll, dann kommen wir immer öfter in die Verlegenheit zu entscheiden: was hat hier Vorrang, der Anspruch an Transparenz oder der Schutz der Privatsphäre? Die Piratenpartei steift diese Grenze ständig. Wer darf wen anstellen, wer treibt mit wem Geschäfte, wer kennt wen wie gut? Man merkt bald, dass man Politik nicht wirklich versteht, wenn man die sozialen – das heißt auch privaten Animositäten und Sympathien – versteht. Vor allem Liquid Feedback bildet durch die Delegationsverbindungen auch soziale und damit private Netzwerke ab. Liquid Democracy ist das Ende der Trennung von Privatheit und Politik. Viele Piraten haben deswegen Angst, dass ihr Netzwerk offenbar und ihr Stimmverhalten transparent wird und dass das dann gegen sie verwendet werden kann – egal ob Parteiintern oder vom Arbeitgeber. Sie haben Angst, dass eine längst vergangene Abstimmung, sie wieder einholt, obwohl sich ihre Meinung zu dem Thema längst geändert hat. Es gibt viele Versuche das Problem technisch etwas zu entschärfen, aber das Grundproblem bleibt: Abstimmungen über den Computer müssen nachvollziehbar bleiben, oder sie sind Manipulation anheimgegeben. Was aber nachvollzogen werden kann, ist auch auswertbar.

Wenn ich meinen Namen und meinen Standort der Taxizentrale weitergebe, dann wird sie nur an das eine Taxi weitergeleitet, das mich dann abholt. Die Taxi-App funktioniert aber nur deswegen, weil meine Daten an alle Taxis in der Nähe rausgehen und sich der betreffende Taxifahrer statt der Zentrale entscheidet, ob er mich bedient.

Transparenz ist der Preis dafür, wenn man Prozesse dezentral und partizipativ organisiert. Das Internet vermag uns alle miteinander nach unseren Wünschen, Situationen, Wertemodellen und Interessen zu verbinden. Es kann dies aber nur, wenn wir ihm diese Präferenzen als Daten dazu bereitstellen.

Und so geht es der ganzen Gesellschaft wie die Piratenpartei. Sie erahnt und nutzt die großartigen Potentiale zur freieren und selbstbestimmteren Selbstorganisation aber gerät immer wieder an den Punkt der unheimlichen Selbstoffenbarung. Wir wollen Wohnungen mieten ohne Makler, wir wollen Taxis ohne Zentrale, wir wollen Bücher schreiben ohne Verleger, wir wollen uns organisieren ohne Verein. Das alles ist heute durch das Internet möglich, aber nur wenn wir sagen, wer wir sind und was wir wollen. Nur dann haben die anderen die Chance uns zu finden. Unser Hadern mit unserer neuen Transparenz und die Auflösung der Privatsphäre wird gewöhnlich getrennt betrachtet von den Möglichkeiten der direkten Interaktion oder den emanzipativen Eruptionen wie dem arabischen Frühling oder OccupyWallStreet. Und doch es sind zwei Seiten der selben Medaille.

Wer partizipiert wird transparent und nur wer transparent ist, kann partizipieren. Das Partizipations-Transparenz-Dilemma gilt für alle Fragen einer Politik der Zukunft. Wir können in Frage stellen, ob es das ist, was wir wollen. Wir können aber nicht zum einen „Ja“ und zum anderen „Nein“ sagen.

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