Don Alphonso hat eine lesenswerte Reflexion über Gadgets und den Tod verfasst. Obwohl ich den Beitrag nicht gelesen hatte, als ich meinen eigenen über Wikileaks und den Krieg schrieb, hatte ich mich dort auf Baudrillard bezogen, eben jenen Autor von „Der symbolische Tausch und der Tod„. An das Buch musste ich wieder denken, als ich Don Alphonsos Beitrag las.
Es ist das Hauptwerk Baudrillards, in dem er die These aufstellt, dass das kapitalistische System sich längst von der Realität verabschiedet habe und als reine Zeichenwelt – eine Welt des relativen Tauschwertes und der Marken – sich alles einverleiben würde, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Nichts hält der freien Zeichenhaftigkeit des Systems stand, alles ist integrierbar, alles wird früher oder später Teil dieses Zeichenkapitalismus. Außer einer Sache: der Tod. Der Tod verbleibt als einzige Singularität außerhalb des Systems, denn das System ist auf das Leben ausgerichtet. Der Tod wird ausgegrenzt, wo immer man auf ihn trifft und so ist es nur logisch, dass unsere Kultur keine Antwort auf Selbstmordattentäter findet. Jedes Zeichen ist in unserer Welt im Tausch resituierbar, außer der Tod. Jemand, der also freiwillig sein Leben gibt, fordert unser System heraus. Der Freitod sei die letzte Bastion der Subversion.
Don Alphonso räumt ein, dass Gadgets und Antiquitäten kaufen der selben Funktion zuzuordnen sei: der Überwindung des Todes. Ich glaube er will damit auf folgendes hinaus: das Sammeln schafft einen individuelles Archiv. Es spiegelt die Besonderheit des Sammlers und verschafft ihm so eine Möglichkeit des Überdauerns dieser Individualität. Über den Tod hinaus. Doch gilt das auch für das Sammeln von kurzlebigen Gadgets?
Nur: was ist mit dem Schreiben? Ist es nicht viel mehr das Schreiben, mit dem wir dem Tod entfliehen. Schreiben in einem erweiterten Sinn: Spuren zu hinterlassen. Meine Gadgets sind kein Selbstzweck. Sie sind alle Kommunikationsgeräte mit denen ich Spuren im Internet hinterlasse. Es gibt nichts besseres, um sich gegen den eigenen Tod zu versichern, als das Schreiben. Don Alphonso hat leider den Kauf von Gadgets auf die selbe Ebene wie den Kauf von Antiquitäten gesetzt. Das ist unfair. Ich für meinen Teil, besitze Gagets nämlich nur zur Kommunikation, zum Spuren hinterlassen. Das Gadget selbst ist nicht ein hilfloser Versuch zur Überwindung des Todes, sondern nur das neuste und tollste Werkzeug dazu.
Derrida hat den Buchstaben einmal mit einer Grabstätte verglichen. Sokrates bevorzugte nicht nur, aber auch deswegen das „lebendige Wort“ der gesprochenen Sprache gegenüber der toten Schrift. Als Grabsteinfunktion ist die Schrift aber nicht einfach repräsentativ für den Tod. Im Gegenteil. Der Grabstein ist immer der Versuch der Überwindung des Todes. In dieser Tradition steht auch die Schrift. Mein Blog, so hoffe ich, wird mich auf die eine oder andere Art überdauern. Vielleicht wird die Zukunft meine Thesen entwerten, aber dann kann ich immer noch als abschreckendes Beispiel gelten und so Einzug halten, im kulturellen Gedächtnis.
Der Altertumsforscher Jan Assmann hat in „Das kulturelles Gedächtnis“ diese Entwicklung vom Grab zur Schrift sehr gut nach gezeichnet. Anhand der frühen Ägypter zeigt er, wie der Wissenstransfer sich in der Vorgeschichte ganz anderer Zeichen bediente, als die Schrift. Dort hatten nämlich Gräber und rituelle Orte diese Aufgabe. An ihnen knüpfte sich das überindividuelle Gedächtnis; die Koordinaten der Erinnerung, in der die Menschen ihre kulturellen Errungenschaften: ihre Geschichten, Genealogien und ihre Kunstfertigkeiten kodierten und abspeicherten, um sie von Generation zu Generation weiter zu geben. Es handelt sich also tatsächlich um die praktische Überwindung von Wissen über die Schwelle des Todes. Ähnlich war es mit Riten und spirituellen Formeln, mit Gewändern und Festlichkeiten. Sie alle waren Schrift. Die Regeln waren bei all diesen Erinnerungsfunktionen strengstens einzuhalten. Endlose Passagen auswendig gelernter Formeln und Geschichten, komplexe Feste mit einer sehr detaillierten Choreographie in der jede Handbewegung eine Bedeutung hat. Die kleinste Abweichung wurde schlimm sanktioniert, denn es war schließlich nichts weniger als das kulturelle Gedächtnis in Gefahr.
Mit dem Einzug der Schrift verloren die Riten und Grabstätten ihr Medienmonopol. Sie wurden ab nun laxer gehandhabt, hatten aber noch ihren festen Platz als Erinnerungsfunktion. Den Übergang zur Schriftkultur beschreibt Assmann anhand der Geschichte des jüdischen Volks und der Tora. Das Judentum war vermutlich die erste vornehmlich schriftgetriebene Kultur. Es war damit die erste Kultur, die ein mobiles Gedächtnis hatte und deswegen nicht nur in der Bewegung geformt (Auszug aus Ägypten) sondern auch über die Jahrtausende ortsunabhängig überlebensfähig war (Diaspora). Das Judentum war von Anfang an nicht geographisch, sondern historisch situiert. Es konnte sich Ortsungebundener und liberaler Entfalten als die meisten anderen Kulturen. Mithilfe der Schrift.
Der Übergang zur Schrift als zentralem Erinnerungsmedium hat also die Menschen befreit. Die ewige Wiederholung des Immergleichen und die enge Bindung an bestimmte Orte, waren zu einem gutteil aufgelöst. Man kann diesen Einschnitt nicht hoch genug bewerten. Es war eine Emanzipation, die nur mit jener vergleichbar ist, die der Buchdruck im Gewande der Aufklärung mit sich brachte. Oder heute das Internet. Es scheint so, als sei die Freiheit der Gegenwart vor der Tyrrannei der Vergangenheit – als Bedrohung durch den Tod – eine Frage der Medientechnik.
Boris Groys macht in seinem Buch „Über das Neue“ die interessante Beobachtung, dass der Anspruch an die Kunst immer Neues zu produzieren, ein relativ, ja, neuer ist. Früher, klärt er auf, waren die Künstler gehalten, die großen Meister und den Stil ihrer Zeit zu reproduzieren. Innovationen – zum Beispiel in der Malerei – wurden äußerst kritisch beäugt und als mangelnde Demut vor dem Bestehenden verstanden. Heute jedoch könne es sich ein Künstler kaum noch erlauben Werke zu schaffen, die eine Idee nur weiterführen, die es schon gibt. Alles muss noch nie da gewesen sein, um überhaupt eine Berechtigung in der Welt der Kunst zu haben. Wieso hat sich das so radikal geändert?
Groys entwickelt die interessante These, dass das Neue immer dort an Bedeutung gewinnt, wo das Alte zugänglicher wird. Das Archiv ist also ein Innovationsmotor. Das Versprechen des Nichtvergessens befreit das Jetzt der Kunst vom Joch der Wiederholung und der Tradition. Das absolute Neusein ist das eigentliche Wesen des Kunstwerks im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit.
Rückbezogen auf Assmann kann man festhalten, dass die bessere Medientechnik, die Menschen unabhängiger vom Alten macht. Ist das kulturelle Gedächtnis nicht nur sicher gespeichert, sondern auch für geringen Aufwand für jeden reproduzierbar, scheint sich die gegenwärtige Gesellschaft besser von der Vergangenheit zu lösen und wendet ihre frei werdenden Aufmerksamkeitsressourcen auf das Neue aus. Luhmannsch‘ ausgedrückt lagert sie die Anschlussfähigkeit technisch aus (und erweitert sie dabei nicht unwesentlich) und konzentriert sich auf die Irritation des bestehenden Systemzustands. Das kulturelle Gedächtnis hat im Laufe der Mediengeschichte immer weiter an Bandbreite zugewonnen und macht sich daran, immer größere Bestände des Wissens zu archivieren. Es befähigt uns außerdem dazu, der Gravitation unserer eigenen Zeichenhalden (zum Beispiel Ideologien und Traditionen) zu entfliehen, um in neue Sphären der Kreativität und des Wissen vorzustoßen.
Vom Grab zum Internet ist es ein weiter Weg. Und doch verfolgt uns diese Metapher bis zum Schluss. Das Internet ist das Speicherbilligste und zugänglichste Medium, das wir je hatten. Mit weitem Abstand. Was red‘ ich: es ist mindestens ein Einschnitt um die selbe Komplexitätserhöhung wie die Einführung der Schrift und des Buchdrucks. Heute bedeutet diese Dimension, dass es alle anderen kulturellen Speicher entweder integriert oder entwertet. Denn was wir mit dem Internet – mal wieder – erfolgreich aufzuschieben mächtig sind – weiter als je zuvor – ist der Tod, ist das Vergessen. Die Erinnerung und Erinnerbarkeit nimmt Dimensionen an, die vorher unvorstellbar waren.
In sofern hat Baudrillard zwar Recht, dass mit Welt der „frei flottierenden“ Zeichen, die Assimilation besser, schneller und gründlicher von statten geht, als je zuvor (er schrieb das Buch lange vor dem Siegeszug des Internets). Alles wird in Zeichen verwandelt und auf diese Weise zugänglich gemacht. Doch eines hat Baudrillard falsch verstanden: der Tod wird nicht einfach nur „ausgegrenzt“, ganz im Gegenteil. Die Medientechnologie beschäftigt sich mit nichts anderem als dem Tod. Insofern ist die Reziprozität der Gabe des Todes durchaus gewährleistet. Das ganze System der Zeichen ist nämlich selbst der Gegentausch zum Tod. Am Ende dieser Entwicklung steht das, was einige Menschen den „Mindupload“ nennen. Die absolute Archivierung und Zugänglichmachung von Individualität, das heißt, die Digitalisierung des Bewusstseins. Also ja: der Tod des Todes.
Natürlich gibt es noch die anderen Archive. Auch das Bürgertum, wie Don Alphonso es in seinem Blog beschreibt, gehört dazu. Der Habitus, der Dünkel, die Regeln und die ungeschriebenen Gesetze, das ganze Korsett von Dos und Don’ts von dem Don Alphonso in seinem Blog berichtet, haben selbst eine mediale Funktion. Sie sind Hort und Residuum kultureller Praktiken, ausgefeilter Protokolle und ein reichhaltiger Schatz von Traditionen, das heißt: antiquierter Medientechniken. Das Bürgertum war selber solch ein Archiv des kulturellen Gedächtnisses und genau als solches eben eine Stütze der Gesellschaft. Eine Erinnerungs- und eine Vorbildstütze, die, bevor die Medien immer globaler wurden, die lokalen Rollenmodelle der Gesellschaft bildeten. Den Niedergang dieser institutionellen Position, die archiv’sche Entwertung – auch durch das Internet – beschreibt Don Alphonso so treffend wie wehmütig. Das Bürgertum stirbt in seiner Rolle als Identitätsressource und regionales Kulturarchiv.
Stattdessen kapriziert sich die Gesellschaft immer weiter auf das Neue. Silberservice und andere bürgerliche Distinktionsmerkmale finden kaum mehr Interesse. Etikette und die Einhaltung der Regeln, Haltung, Familie und Normen, all das ist in weiten Bevölkerungsteilen nicht mehr nur nicht vorhanden, es wird nicht mal mehr als tugendhaft angesprebt. Stattdessen ziehen die Menschen von Attraktion zu Attraktion; alles noch neuer macht das Internet. Die Zyklen der Entwertung werden dabei immer kürzer und das Internet frisst wie ein Mähdrescher alle Errinnerungen auf und macht das Bauchnabelpiercingfoto gleich neben Goethes Faust für alle zugänglich. Ich verstehe, dass das Manche melancholisch macht. Man darf sich darüber aber nicht täuschen: das ist eine Emanzipation. Niemand hat gesagt, dass sie gut riecht, die Freiheit.
Doch das Internet, wäre nicht das Internet, wenn es Wissen einfach nur sterben lassen würde. Dank Don Alphonso hat das Bürgertum als überindividuelles Archivzeichen im neuen kulturellen Gedächtnis ein Weiterleben gefunden. Es wird seinen eigenen Tod überdauern und wiederkehren, wie ein Gespenst, wann immer wir nach „Stützen der Gesellschaft“ googlen. Vielleicht mithilfe des allerneusten Gadgets.
(Original erschienen auf der Website von FAZ.net)
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