So langsam hat sich die Euphorie über Google+ gelegt und alle sind sauer. Das ist gut so. Vor allem wegen der Realname-Policy, als auch wegen der vielen kleineren Macken und Nervereien wird überall rumgemosert. Und ich will dabei mitmachen.
Ich saß heute im Studio von Dradio.Wissen und habe mit Jürgen Kuri, Don Dahlmann und Anne Roth über die Probleme und Vorzüge von Google Plus gesprochen. Anhören kann man sich das hier, runterladen dort.
In Vorbereitung der Sendung, aber nicht nur deswegen, habe mich mir darüber Gedanken gemacht, was mich alles so stört. Neben der Realname-Policy sind es noch einige andere Dinge, die mir schon nach so kurzer Zeit übel auf den Senkel gehen. Weil ich vieles an Google+ aber mag und weil ich an die grundsätzliche Vernunft von Google und ihren Willen glaube, ein tolles Produkt zu machen, wage ich es zu hoffen, dass es sich derzeit noch lohnt, laut zu meckern. Ich tue das, wo ich nur kann und eben auch hier, mit ein paar konstruktiven Verbesserungsvorschlägen.
Meine Ideen basieren dabei natürlich auf den Ideen der Queryology, die ich schon mal hier auf Diaspora und Facebook angewendet hatte und die Kristian Köhntopp auch schon auf Google+ anwendete.
Queryology in kurz: Im Grunde geht es dabei darum, dass man den Blickwinkel weg von der Frage schiebt, was der Sender denn gerne wie, wann, wo und mit wem teilen will, sondern stattdessen fragt, wie der Empfänger seinen Nachrichtenstrom am besten organisieren kann. Man sieht die Social Network-Frage also nicht mehr als Datenschutzproblem, sondern als Filterproblem.
Und so würde ich Google+ also queryologisch umbauen:
1. Weg mit Privacy-Features!
Scheiß auf Privacy-Features. Privacy hat man doch schon bei Facebook und auch da ist es ein übler Schmerz im Hinterteil aller Beteiligten. Privacy in Social Networks verkompliziert alles, gängelt Nutzer, verschließt die Plattform zum Walled Garden und ist im praktischen Umgang so kompliziert, dass man es entweder aufgibt, oder aus Frust nur wenig bis gar nichts mehr postet.
Twitter ist der Dienst mit den besten Privacy Features: nämlich keinen. Keine Einstellungen, keine Informationseinschränkung, keine Kompliziertheit, kein Verklicken, keine Mißverständnisse. Ich verstehe nicht, warum Google nicht diesen Weg geht. Es würde am besten zu ihrer Philosophie der Offenheit passen. Klar, es hätten wieder die üblichen Datenschützer rumgeschrieen. Aber die kann man doch schreien lassen, bis sie heiser sind.
2. Channels statt Circles
Wenn man sich zu so einem radikalen Schritt entschlossen hat, hat man auf einmal ein Meer an neuen Möglichkeiten. Möglichkeiten nämlich, das bessere Twitter, anstatt das noch kompliziertere Facebook zu machen. Ich finde die Circles nämlich nicht grundsätzlich schlecht, nur als Privacyfeature taugen sie nichts. Aber was, wenn man das Konzept queryologisch vom Kopf auf die Beine stellt?
Ich lege Circles an: „Privat„, „Arbeit„, „News„, „Projekt1„, „Projekt2„, „Kegelclub„, etc. Aber anstatt, dass ich da die Leute einsortiere, können die Leute – sofern sie es wünschen – den Circles, die sie interessieren, folgen. Es ist doch so: die meisten Leute – bis auf die engen Freunde – interessieren sich nicht für den Teneriffaurlaub (und von denen auch nicht alle). Aber alle, die es eben doch interessiert, können dann meinem Privat-Channel folgen. Denen sind dann aber vielleicht die Projekte egal und was auf der Arbeit so passiert. Jeder sucht sich also das, was ihn interessiert, anstatt, dass ich ihm seine Interessensgebiete vorsetze, indem ich ihn in Circles einsortiere.
Wenn jetzt also die „Circles“ zu abonnierbaren „Channels“ würden, könnte ich als Sender die Informationen genau wie gedacht, thematisch den Channels zuordnen, meinen Freunden auf diese Art nicht mit Arbeitskram auf die Nerven gehen, meinen Chef nicht mit Urlaubsbildern konfrontieren – überhaupt niemanden mehr nerven, weil es eine granulare Möglichkeit des Followings gibt. Und wer doch genervt ist, ist eben selber schuld und sollte seine Followings rekonfigurieren.
3. These: Privacy ist nichts durchzusetzendes, sondern etwas gewährtes.
Diese Überlegung folgt aus der der Queryology zugrunde liegenden Ethik des Anderen, die sich aber auch in anderen Nachdenken über Privatsphäre wiederspiegelt. Beispielsweise hat Seda Gürses in ihrem Vortrag, der im groben in etwa die Kontrollverlust-These etwas anders postuliert, angemerkt, dass Privacy eben etwas sei, dass nicht verschwindet, wenn es nicht durchsetzbar ist.
Privacy ist viel mehr etwas, das wir auch in der normalen Welt eher anderen gewähren, als dass diese sie aktiv durchsetzen. Gürses nennt das „Privacy as a practice„. Im englischen heißt es: „to give someone some privacy„. Unser Leben ist voll von ungeschriebenen Regeln, durch die wir uns gegenseitig Privacy gewähren – völlig ohne jeden Zwang.
In dem Buch von Duncan J. Watts: „Everything Is Obvious: *Once You Know the Answer“ werden unter anderem viele dieser Beispiele aufgezählt, etwa wie wir uns zueinander im Fahrstuhl oder in der U-Bahn verhalten. All das ist von unzähligen ungeschriebenen Regeln geprägt (man starrt sich nicht an, man hält Abstand, etc), in denen wir anderen Privatheit gewähren. Freiwillig und weil es uns selbst ein Bedürfnis ist.
Und so hat auch jeder Mensch diverse Rollen. Diese Rollen werden aber auch im realen Leben nicht aktiv und restriktiv durchgesetzt, sondern sie werden uns vom Anderen gewährt, ja sogar von ihm verlangt. Es wird erwartet, diese Rollen zu spielen und zwar im vollen Bewusstsein darüber, dass wir – die selbe Person – in anderen Kontexten völlig andere Rollen ausfüllen. In Wirklichkeit will mein Chef nämlich gar nicht wissen, dass ich mich in Clubs daneben benehme. Er will nur nicht, dass ich es gegenüber Kunden tue.
Ich bin davon Überzeugt, dass ich mein Privatleben nicht vor meinen Chef verstecken muss. Er will es gar nicht wissen. Wenn er die Möglichkeit hat, mein Privatleben zu ignorieren, wird er es tun.
Ich glaube, wir sollten der Kultur und der Konvention den Raum geben, das zu regeln, was a priori zu ihr gehört: den Umgang mit Privatheit.
Deswegen halte ich die Channel-Idee für wirksam, obwohl sie keine Kommunikation verhindert. Und aus dem selben Grund halte ich die Möglichkeit der Pseudonymsierung für wichtig, obwohl ich nicht an deren langfristige Anonymisierungs-Funktion glaube.
Ich beispielsweise achte seit je her die Pseudonyme, denen ich begegne. Es spielt für mich keine Rolle, ob ich den echten Namen kenne, ob der Echte Name bekannt ist, oder ich den echten Namen herausfinden könnte: Ich werde in der Situation, in dem mir jemand mit einem Pseudonym begegnet, ihn mit diesem Preudonym ansprechen. Das könnte also eine dieser vielen ungeschriebenen Regeln des Zusammenseins in der Onlinewelt sein, was ich sehr befürworten würde.
Man sollte also jede Rolle und Identität sein dürfen. Aber nach Möglichkeit sollte man den Anderen entscheiden lassen, welche davon er abonnieren will.
4. Und jetzt doch noch Privacy.
Wenn wir die Circles also als Channels organisieren, hätten wir viele Freiräume und grandiose neue Möglichkeiten der Filterung. Und jetzt kommt noch was Überraschendes:
Nun könnte man ein viel einfacheres und besseres Privacy-Konzept integrieren: Bei den Einstellungen jedes Channels gibt es die Möglichkeit ihn auf „protected“ zu setzen. Den protecteten Channel kann man nur anfragen zu folgen und muss als Follower einzeln bestätigt werden. So wie Twitter es schon jetzt mit protecteten Accounts macht. Jede Info, die im protecteten Channel landet, ist nicht öffentlich einsehbar und auch nicht sharebar. Das wäre also eine Form von Privacy, die den anderen Nutzern nicht allzusehr auf die Nerven geht, klare Fronten schafft und die extrem leicht zu bedienen ist und mit der sogar ich mich anfreunden kann. Und wer weiß, die ich vielleicht sogar als Spacko nutzen würde.
5. Standardisierte Channels / Channels als Tags
Drehen wir noch ne Extrarunde: Es würde Sinn machen, einige Channels standardisiert vorzugeben, wie: „Privat„, „Arbeit„, „News„, und andere. Das hätte den Vorteil für die Follower, dass sie ähnlich wie es wohl bei Google Plus geplant ist, einzelne Themengebiete in ihrem Stream aus- und einblenden könnten. Ich hätte dann einen Stream, der alle Nachrichten umfasst, von Leuten deren Privat-Stream ich folge, einen für alle deren News-Stream (wo die Leute Links und öffentliche Infos sharen) ich abonniert habe und einen für die, deren „Arbeit“ mich interessiert.
Man kann sich natürlich auch mit einer Gruppe von Leuten darauf einigen, einen Namen für einen Channel zu wählen: „Modellflugzeug“ hieße beispielsweise der Channel, in den alle Modellflugzeugbegeisterten ihre Tipps, Tricks und News zu dem Thema pushen. Damit wären dann auch die unsäglichen „Sparks“ gefixed.
6. Fazit
Im Grunde könnte man Google Plus so umbauen. Im Grunde könnte man auch Twitter so umbauen. Im Grunde könnte man das Konzept auch mit einem neuen – wie Google+ designten Twitterclient und einer Hand voll Twitteraccounts workarounden. Manche nutzen Twitter vielleicht sogar schon so ähnlich mit mehreren Accounts.
Wenn ich Google wäre, würde ich Plus genau so gestalten. Wenn ich ein Gründertyp wäre, würde ich mir VCs suchen, um das Ding umzusetzen. Wenn ich ein Opensource-Programmierer wäre, würde ich eine XMPP- oder Status.net-Version davon bauen. (Aber bitte dann einen fähigen Designer dransetzen ja, liebe Nerds?) Und wenn ich ich wäre und es gäbe das, dann hätte ich endlich mein Social Network gefunden.
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