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An meiner alten Uni in Lüneburg findet nächstes Jahr vom 2. bis 4. Februar das Symposion des DFG: „Soziale Medien — Neue Massen“ statt. Ich hatte mich auf den Call for Papers beworben, habe aber heute leider eine Absage bekommen. Eigentlich wollte ich mich die nächste Zeit tiefer in die Thematik stürzen, die ja eigentlich mein Doktorarbeitsthema ist und dafür sind Vortragsdeadlines bei mir die effektivste Methode. Schade. Ich hoffe, ich werde die Motivation von irgendwo anders her aufbringen.
Hier jedenfalls das Abstract, das ich eingereicht habe:
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Derrida, Foucault und der Kontrollverlust
Die poststrukturalistischen Abgründe des Internets
Im letzten Jahr hat sich der Begriff „Kontrollverlust“ für die teilweise dramatischen gesellschaftlichen Umwälzungen etabliert, die sich durch das Internet ereigneten. Die Regierungen verlieren durch Plattformen wie Wikileaks die Kontrolle über ihre Geheimnisse, die Kulturindustrie verliert durch Piraterie die Kontrolle über ihre Distributionswege und Unternehmen verlieren durch das demokratisierten Sprechen im Netz die Kontrolle über ihre Markenkommunikation. Nicht zuletzt verlieren wir alle die Kontrolle über unsere Daten, die längst frei im Internet flottieren, manchmal gewollt, oft ungewollt.
Ohne die Evidenz dieser Beobachtung in Frage zu stellen, halte ich es für geboten, dieser angeblichen Kontrolle, die da verloren geht, auf den Grund zu gehen. Damit meine ich aber nicht, die soziotechnischen Bedingung der Möglichkeit von Informationskontrolle zu untersuchen. Stattdessen möchte ich frontal die Frage nach dem Archiv stellen.
Denn die Ordnung, Kontrolle und das Umgehen mit Information ist zuvorderst die Frage nach dem Archiv. Eine Frage, die vor allem Foucault völlig neu gestellt hatte, indem er diesen Begriff umdefinierte. Das Archiv ist nach Foucault der ordnende Ausgangspunkt, der die Möglichkeit und die Unmöglichkeit einer jeden Aussage innerhalb eines Diskurses bestimmt. Es ist die Summe der diskursiven Praktiken und bildet dadurch den Horizont all dessen, was überhaupt zu einer bestimmten Zeit gesagt werden kann.
Foucaults detailreiche Analyse der Dokumente auf die Regelsysteme ihrer Aussagen hin versetze ihn in eine Art Metabene, aus der er anfing, andere Strukturen zu sehen. “Diskurse”, eben jene, welche Foucault nun durch seinen speziellen Blick von einander differenzieren konnte, waren in gewissem Sinn eine Art Kontrollverlust der Geschichtswissenschaft. Auf einen Schlag wurde offenbar, dass die Konstruktion von Geschichte durch Aneinanderreihung von Ereignissen selbst ein Diskurs war, der zwar nicht nach beliebigen, aber doch nach austauschbaren Regeln funktionierte.
Die Strukturanalyse von positiven Datenbeständen – also ihre Neuverknüpfung auf unvorhergesehenem Wege – wie Foucault sie Betrieb, ist heute Gang und Gäbe. Diese
Form von Echtzeitarchäologie nennt sich „Datamining“ und wird von Computern erledigt. Die wichtigste Erfindung in dieser Hinsicht war sicher die Relationale Datenbank und ihre Abfragesprache SQL in den frühen Siebzigern. Die von der vorhandenen Datenstruktur weitgehend unabhängigen „Queries“ (Abfragen) eröffneten neue Möglichkeiten der Datenauswertung und erschufen neue Freiheiten der Interpretation. SQL ermöglicht die Entdeckung von immer neuen, unvorhergesehenen Querverbindungen, das Aufdecken von Strukturen, die nicht direkt in den Daten stecken, sondern sich erst in einer höheren Abstraktion korrelieren lassen. Eine Entwicklung, die Chris Anderson 2008 zur These verleitete, dass das “Ende der Theorie” gekommen sei. Ist Foucault zum Algorithmus geworden?
Derrida hat im Gegensatz zu Foucault die Entwicklung des Computers und des Internets nicht nur miterlebt, sondern sich auch brennend für diese Technologie interessiert. Er, der Schüler und spätere Kritiker Foucaults, hat seinen eigenen Archivbegriff formuliert. In “Mal d’Archive” steckt nicht nur ein aktueller Bezug auf die Informationsmedien, sondern auch das Kondensat des Streits zwischen den beiden Philosophen. Ein Streit, der – betrachtet man ihn genauer – sich um die Frage des „Archivs“ und des „Ereignisses“ dreht. Reicht es, nur die Daten neu zu interpretieren, oder muss das Archiv in einem ständigen, nie endenden Prozess der Dekonstruktion ausgeliefert sein?
Die Fragen, die sich Derrida über das Archiv stellt, wirken auf den ersten Blick, als ob er sich gegenüber Foucault wiederum in einer Art Metaebene positioniert. Doch der Eindruck täuscht. Derrida versucht im Gegenteil ein Denken über das Archiv zu etablieren, dass der Metaebene völlig entsagt. Ihn interessiert nicht, ob die “Queries” der Geschichtswissenschaft oder die von Foucault die “richtigeren” sind – für ihn steht die “Query” selbst im Fokus. Er untersucht, wie die Query – also das je aktuelle Umgehen mit dem Archiv – das Archiv selbst determiniert und dabei die Realität erschafft. Und vor allem wie die Query sich selbst, das Archiv und all seine Diskurse auslöscht, indem sie sich immer wieder neu und anders stellt. Der Kontrollverlust ist dem Archiv also immer inhärent. Er ist jene Öffnung in die Zukunft von der Derrida spricht und kann auch nur von der Zukunft her gedacht werden.
Statt einer Archivologie, wie Derrida sie vorschlägt, möchte ich das Projekt einer Queryologie zur Diskussion stellen. Denn die Query – in ihrer algorithmischen Form – ist durch Google, Wikipedia und das Web 2.0 längst die Brennweite des menschlichen Wissens geworden. Die Queryologie muss in zweifacher Hinsicht eine Zukunftswissenschaft sein. Sie fragt im Sinne einer Futurologie, wie die Queries eines Tages unsere Diskurse, die Gesellschaft und zuletzt uns selbst ordnen werden und obendrein muss sie ihre Fragen immer aus dem Blickwinkel eines zukünftigen Beobachters stellen.
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