Die Query und die Krise des Archivs

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Die Queryology – so sehr sie als Ansatz zur Erklärung vieler Phänomene in der heutigen Zeit taugt – wurde zuletzt theoretisch etwas unterbestimmt gelassen. Es blieben Fragen offen. Was genau sind die Mechanismen der Query? Wo kommt sie her, was ist ihre Geschichte? Was ist ihr Ort auf der Welt und zwar unabhängig von der Erfindung des Computers. Die Queryology muss einen gewissen Universalanspruch für sich reklamieren, das heißt, sie darf sich nicht darauf beschränken, Einzelphänomene zu einer bestimmten Zeit zu erklären, sondern sie muss auch auf den ganzen Rest, den wir Welt nennen, antworten können. In diesem Text versuche ich, diesem Anspruch ein wenig gerechter zu werden.
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Man stelle sich vor, man hat hat einen Stein. Es ist kein Stein, wie jeder andere, sondern ein besonderer Stein. Schön, glatt, schimmernd und irgendwie geheimnisvoll. Was tut man damit, wenn man ihn nicht die gesamte Zeit mit sich herumtragen will? Man legt ihn ab. An eine Stelle, wo man glaubt, dass man ihn wieder findet.

Speichern hat immer mit einer Handlung in der Zukunft zu tun. Man speichert etwas an einer Stelle, wo man in einer zukünftigen Zeit wieder darauf kommt, wenn man sich fragt: „Wo habe ich den Stein hingelegt?

Daraus folgen zwei Dinge, die eine gewisse Paradoxie offenbaren:
Erstens ist die Query dem Vorgang des Speicherns vorgängig. Ohne einen Plan, wie eine Abfrage auszusehen hat, kann ich keinen sinnvollen Speicherprozess vollziehen.
Zweitens ist die Query ein Pakt mit der Zukunft, also dem Speichern nachgängig. Erst in zukünftigen Zeiten werde ich auf die Speicherstelle zurückkommen. Speichern wendet sich an die Zukunft, glaubt an die Zukunft und zwar als Query und zwar noch vor dem Speichern.

Jedenfalls haben wir das bisher immer – also seit es Menschen gibt – so gemacht. Aber das geht jetzt zu ende. Wir leben in einem Umbruch, den ich immer mal wieder mit dem Wort Queryology oder Kontrollverlust zu umschreiben versuche und den man abstrakt so erklären könnte: der Kontrollverlust ist die Emanzipation der Query vom Diktum des Archivs.

Doch zunächst müssen die Begriffe geklärt werden. Was ist Archiv und was ist Query?

Das Archiv ist immer eine Konfiguration, eine Anordnung. Sie kann aus allem möglichen bestehen. Aber sie muss immer eine mehr oder weniger feste Struktur von Anknüpfungspunkten bieten. In unserem oberen Beispiel ist es eben der Ort, an dem ich den Stein ablege. Der Ort wiederum ist in eine Struktur (oder „Topologie“ wie man bei Orten gerne sagt) eingebunden. Der Stein ist im Schrank über der Spüle in der Küche, in meiner Wohnung in Berlin, in Deutschland auf der Erde.
(Orte können auch komplexere Dinge speichern. Jan Assmann z.B. weist darauf hin, dass die Ägypter, bevor die Schrift verwendeten, ihre Geschichten sehr eng an die rituellen Orte knüpften. Die Landschaft ihrer Heimat war Speicherort ihrer kollektiven Erinnerung.)
Die Strukturen, die wir im Laufe der Zeit zum Verknüpfen von Informationen geschaffen haben, sind vielfältig. Es sind so unterschiedliche Dinge wie Versmaße, Gesetze, Melodien, Parlamente, Schrift, Grenzen, Malerei und Aktenordner.

Die Query greift auf die Ordnung des Archivs zurück. Wichtig ist die Wiedererkennbarkeit der Konfiguration der Anknüpfungspunkte, so dass sie die Query auslösen kann, die die Information reproduziert. Die Query kann theoretisch Strukturen aller Art befragen, doch je einfacher eine Struktur ist, desto leichter hat es die Query. Steigt die „Unordnung“ im Archiv, braucht es eine komplexere Query, um es zu befragen. Da die Möglichkeiten der Query begrenzt sind, sieht man traditionell lieber zu, Ordnung im Archiv zu schaffen. Von dem Versuch diese Ordnungen zu schaffen, ist die uns bekannte Welt geprägt.

Die Queryemanzipation

Bislang hat sich die Archivtechnik an den denkbaren Querys orientiert. Gespeichert wurde in Voraussicht einer bestimmten, sehr genau spezifizierten Query. Queries waren also lange Zeit nichts anderes als die immanente Reaktualisierung einer gespeicherten Verknüpfung; das Herauskramen einer Adressliste um Zugang zu Wissensinhalten zu bekommen. Man kann hier die gesamte Mediengeschichte anfügen und sie von der Query her erzählen. Man müsste die Einführung der Schrift (für die die Query natürlich das Lesen ist), des Buchdrucks, der Bibliothek und des Fernsehens daraufhin untersuchen, welche neuen Abfragetechniken sich aus diesen Archiven ermöglicht oder besser: welche Abfragetechnik welche Speicherformen hervorbrachte. Ich bin mir sicher, das ist möglich und das ist wahrscheinlich auch notwendig, denn Archiv und Query – das war lange Zeit eine interdependente Koevolution.

Der Grund aber, dass die Query bislang nicht als theoretischer Ansatz in der Erscheinung getreten ist, ist, dass die Mediengeschichte – nicht zu unrecht – vom Primat des Archivs und seiner Ordungstechniken her gedacht worden ist. Ich habe das – und die Unzureichendheit dieses Ansatzes – bereits in Queryology I – Das Ende der Medien beschrieben.

Das Primat des Archivs aber geht dieser Tage zu Ende. Man kann sagen, dass die Queries sich von der Speicherstruktur des Archivs ein ganzes stückweit emanzipiert haben und noch weiter emanzipieren. Den Paradigmenwechsel kann man – das habe ich in Queryologie II – Das Filtersubjekt zu zeigen versucht – in der Entwicklung der realtionalen Datenbanken festmachen. In einer relationalen Datenbank wird die ordnende Archiv-Struktur um ein entscheidenes Stück weit aufgegeben, zugunsten einer viel freieren Abfrage. SQL, die Abfragesprache für diese Art von Datenbank, kann durch Echtzeitverknüpfung vieler Datensätze relativ frei komplexe Abfragen durchführen. Eine straffe Strukturierung der Daten – beispielsweise in einer Hierarchie – ist nicht mehr von Nöten, sondern eher hinderlich.

Seit der relationalen Datenbank, kann man nicht mehr davon sprechen, dass Daten für eine bestimmte Query in der Zukunft gespeichert werden. Sie werden auch für die ganz andere Query gespeichert, an die heute noch niemand denkt. Das ist ein Bruch, der so radikal ist, dass er eine tiefgreifende Veränderung in allen Aspekten der Kommunikation und des Gedächtnisses – aber auch in der Struktur der Gesellschaft selbst – hinterlassen wird.

Seit dem Computer ist die Macht der Query eng an Moores Law geknüpft. Mit jeder neuen Prozessorgeneration wird die Query mächtiger und emanzipiert sich weiterhin entsprechend schnell und stark von den vorhandenen Ordnungsstrukturen, das heißt: vom Archiv.

Ein Beispiel, das diesen Zusammenhang gut erklärt, ist die Gesichtserkennung. Fotos sind Archive, die so komplex sind, dass bislang nur Menschen darin lesen konnten. Das galt selbst für digitale Fotos. Mit zunehmender Macht der Query wird das Foto, seine chaotische Struktur, die nie für die Verarbeitung des Computers geschaffen war, verarbeitbar. Erst konnte der Computer Kontraste unterschieden, dann Formen erkennen und nun kann er bald biometrische Muster matchen. Die Query fängt an, in Fotos zu lesen, wie ein Mensch in Fotos lesen kann – oder sogar bald besser. Die Query, obwohl sie bei der Speicherung des Fotoinhalts nie vorgesehen war, evolviert also unabhängig von jeder ordnungsgebenden Struktur. So haben die meisten von uns Fotos im Internet gespeichert, ohne die computerisierte Query im Kopf gehabt zu haben, die Gesichter erkennen kann. Das ist der Kern des Phänomens, das ich immer „Kontrollverlust“ nenne.

Die Krise des Archivs

Aber es passiert noch mehr. Wir haben ja noch eine ganze Menge andere Strukturen in der Gesellschaft und im alltäglichen Leben, die das Zusammenleben ordnen. Auch sie werden mit der mächtiger werdenden Query konfrontiert und somit herausgefordert. Die Queryology geht über eine reine „Kontrollverlust-Lehre“ hinaus, indem sie untersucht, wie dieser Prozess – die Zunahme der Macht der Query – sich auf alle gesellschaftlichen Ordnungssysteme auswirkt.

Die These dazu ist folgende: Ordnungsstrukturen werden in dem Moment entwertet, in dem die Query mächtig genug wird, sie zu abstrahieren. Und Abstrahieren meint nicht nur „in der Query abblilden„, sondern auch das Gegenteil: sie umgehen, ihre Grenzen überschreiten, ihre Struktur zu igrnorieren und sie schließlich in einer höheren Ordnung der Komplexität aufgehen lassen. Die Query, indem sie Ordnung abstrahiert, löst alle Ordnung des Archivs auf und verleibt sie sich ein. Doch die Archivstruktur verschwindet dadurch ja nicht sofort, sondern sie gerät in eine Krise. Die Krise des Archivs, die wir derzeit erleben.

Es passiert gerade in einem unvorstellbaren Ausmaß weltweit und allumfassend: die Strukturen die aktuell betroffen sind, sind beispielsweise Verlage, Musikindustrie, Diktaturen, Reisebüros, Privatsphäre, der Arbeitsmarkt und vieles mehr. Und auf der Liste der bedrohten Arten stehen noch: Institutionen, Demokratie, Eigentum, Arbeit, Nation, Identität, etc. (Wer sich das zutraut, könnte untersuchen, inwieweit die Finanz-Euro-Schulden-Wirtschafts-Krise, ebenso eine Krise des Archivs ist. Es gibt zumindest einige Anzeichen, dass da ein Zusammenhang bestehen könnte.)

Aber was heißt das konkret? Es heißt nicht, wie man annehmen könnte, dass diese Dinge schlagartig aufhören zu existieren, sondern nur, dass sie ihrer Allgemeingültigkeit beraubt werden. Ordungsstrukturen, die die Query sich einverleibt, werden vom Gesetz zur Möglichkeit degradiert.

Es ist ein wenig so, wie bei der kopernikanischen Wende. Im geozentrischen Weltbild, war Erde und Welt eins. Man konnte gar nicht über diese Grenze hinausdenken. Seit wir wissen, dass die Erde um die Sonne kreist, wissen wir auch, dass die Erde nur einer von vielen Planeten ist. Wir werden sehen, dass es dem Archiv – also den ausgeprägten Ordnungsstrukturen – ähnlich ergeht. Sie werden saturiert, indem sie in der Query aufgelöst werden. Sie werden zu einer möglichen Abfrage unter vielen.

Ein Beispiel: Geschichte

Geschichte ist gewissermaßen das klassische Schlachtfeld des Archivs und der Query und bietet somit eine gute Erklärmatrix für unsere Zwecke, obwohl (oder gerade weil?) der Zusammenhang der computerisierten Query nur sehr indirekt daran teil hat. Deswegen hat sie ihre Krise auch quasi schon hinter sich und man kann ihren Verlauf und ihr Resultat genauer Untersuchen.

Geschichte ist ein Archiv, das man angelegt hat, um eine bestimmte – relativ einfache – Query daran zu adressieren: Kausalität. Man arrangiert alle Ereignisse anhand einer Chronologie, bei der jedes Ereignis die Wirkung des Vorherigen zu sein scheint. Was dort nicht hineinpasst, wird nicht aufgeschrieben oder hinterher rausredigiert. Nicht erst heute haben wir entdeckt, dass das natürlich eine recht beliebige und keineswegs wahrhaftige Archivtechnik und Query ist. Also hat man die Query immer mal wieder umgestaltet und komplexer gemacht, das Archiv neu gesichtet und neu sortiert. Bishin zu Foucualt, der nicht einfach nur in den Texten las, sondern sie zu Diskursen gruppierte und das Ordungsschema des Archivs als ein solches untersuchte und entlarvte.

Heute ist es ersichtlich, dass es so viele unterschiedliche Anfragen auf ein so vielgestaltiges Archiv gibt, dass „Geschichte“ nur noch eine unter vielen möglichen Queries ist, die man auf die Archive (im wörtlichen Sinn) anwenden kann. Seit Derrida fangen wir auch noch an, die Query selbst in das Blickfeld zu nehmen und stellen fest: Geschichte wird im hier und jetzt gemacht; bei der Abfrage, nicht bei der Speicherung.

Aber „Geschichte“ ist deswegen nicht vorbei. Es gibt sie noch und es wird sie weiter geben. Aber sie ist keine verbindliche Query mehr. Man kann heute sehr viel freier an das Archiv herangehen, Platon mit Brecht und Elvis Presley remixen oder die Französische Revolution mithilfe der Query des Feminismus zu ihrem Frauenbild befragen. All das ist heute möglich und zwar parallel zur Query „Geschichte„.
(Diese Zusammenhänge sind extrem stark heruntergebrochen. In Wirklichkeit arbeite ich an diesem Theoriestrang bereits seit Jahren sehr viel detaillierter und es wird auch an dieser Stelle noch eine gesonderte Beschäftigung mit diesem Thema geben.)

Ein weiteres Beispiel: Arbeit

Arbeit ist ebenfalls schon lange Gegenstand des Archivs, das heißt der ordnungsgebenden Strukturierung zu ihrer leichteren queryologischen Verarbeitung. Eine ordnungsgebende Struktur ist zum Beispiel der Beruf. Der Beruf ist ein wohldefiniertes und gegen andere Berufe relativ genau abgegrenztes Tätigkeitsfeld. Durch den Ordnungsrahmen Beruf lassen sich Queries zu Gehalt, gesellschaftlichem Ansehen, Position in der Firma, Verpflichtungen und Privilegien vereinfachen.

Gunter Dueck hat darauf hingewiesen, dass viele der Tätigkeiten von ihrer Archivseite – das heißt, wo sie als Wissensakkumulationsinstitution daherkommen – durch das Internet zunehmend obsolet werden. Die Archivseite von Tätigkeiten ist aber noch vielfältiger als diese neuere Entwicklung und hat eine gewisse Tradition.

Jede Tätigkeit ist der Strukturierungsmacht des Archivs unterworfen. Arbeitsteilung, Fordismus und Taylorismus sind einige der wichtigsten Stationen in der Entwicklung der Ordnung der Arbeit. Ziel ist es, die Arbeit so zu gestalten, dass eine Query sie leicht verarbeiten kann. Und dann eben auch ersetzen kann.

Durch die Aufsplittung der Arbeiter-Tätigkeiten am Fließband in einzelne Handgriffe, wird es bald möglich ebendiese durch die Maschine zu ersetzen, die das besser, schneller und genauer macht. Das geht bishin zu den vielen aufeinanderfolgenden und teils recht komplexen Arbeitsschritten, die seit den 80er Jahren vermehrt durch computergesteuerte Roboter übernommen werden. Als die Möglichkeiten der Query komplexer werden, können bereits einige Dienstleistungen an die Query ausgelagert werden. Automaten für Essen, Trinken und Geld, die in mehreren Schritten sowohl Kundenwünsche, als auch Parameter wie „ist genug Geld eingeworfen“ oder Authentifizierungsverfahren in der Query berücksichtigen müssen, ersetzen in den 90er Jahren viele Arbeitsplätze.

Derzeit wird die Query so mächtig, dass sie nicht mehr nur in den Grenzen eines Fließbandes – also einem vorgegebenen Ordnungsrahmen – oder im Raster eines festverdrahteten Prozesses agieren muss, sondern sich ihre Umgebung und ihre Ordnung selbst erschließen kann. Erste Vorboten sind die Staubsaugerroboter, die die Query ihrer eigenen Saugtätigkeit selbstständig erstellen, indem sie die Struktur Wohnung speichern. An dieser Stelle wird es vermutlich auch weitergehen; über vollautomatisierte Putztrupps bishin zur Robotermüllabfuhr.

Andere Berufe werden nur partiell obsolet oder eben „produktiver“ gemacht, was aber letztlich die selbe Wirkung hat: man braucht weniger Menschen für mehr zu erledigende Dinge. Je weiter die Query voranschreitet, desto größer wird der Radius an Tätigkeit, die sie sich einverleiben kann. Je definierter die Tätigkeit ist, desto eher wird sie annektiert. Jede Struktur kommt der Query entgegen.

Arnold King fasst diesen Befund folgendermaßen zusammen:

„The paradox is this. A job seeker is looking for something for a well-defined job. But the trend seems to be that if a job can be defined, it can be automated or outsourced.“

Der jeweilige Grad der Wohldefiniertheit eines Berufs oder einer Tätigkeit lässt auf seine Ersetzbarkeit schließen. Je undefinierter, grober umrissen, schlechter beschreibbar – das heißt eben unberechenbarer – eine Tätigkeit ist, umso mehr ist man davor sicher.

Ein drittes Beispiel: Demokratie

Mehr als einmal habe ich darauf hingewiesen, dass ich die derzeitigen enormen Umwälzungen in der globalen, politischen Landschaft für eine Form des Kontrollverlusts halte. Auch hier haben wir es mit der Auswirkung einer mächtig gewordenen Query gegenüber einer über lange Zeit gewachsenen Ordnungsmacht zu tun. Dabei gilt: die Gesellschaftsstruktur ist immer so komplex, wie die Möglichkeiten ihrer Query.

Wir haben viele Systeme ausprobiert, um Gesellschaft zu organisieren. Der Feudalismus war zu einer Zeit gangbar, in der Gesellschaft noch durch Verwandtschaftsgrade organisiert werden konnte. Extrem lokal, extrem hierarchisch, extrem unbeweglich. Alles war auf die eine Query zum höhergestellten Herren hin organisiert. Die Macht wurde direkt ausgeübt und alles, was sich dieser direkten Macht entzog, war jenseits dieser Ordnung.

Mit dem Buchdruck, der Reformation und der Aufklärung reichte diese Struktur nicht mehr aus. Die Gesellschaft, in der sich Information nun schneller verbreiten konnte, drängte weiter Richtung Komplexität. Die Anzahl möglicher Queries explodierten und auch die Queries selbst wurden komplexer und damit musste wiederum die Archivseite angepasst werden. Statt der direkten Ausübung von Macht wurden in der Bürgergesellschaft Mittlerinstanzen eingesetzt: Werte, Wissenschaft und rechtliche wie politische Institutionen – die viel komplexere Hierarchiegeflechte ermöglichten und die Gesellschaft nicht mehr direkt, sondern indirekt und zum Gutteil dezentral organisierten.

Mit dem Aufstieg der Massenmedien, als vielfältigere Archivsysteme, konnten sich auf einmal auch unterschiedliche, politische Strömungen diversifizieren und schließlich in Parteien manifestieren. Die heutige Umsetzung der Demokratie ist eine Query, die auf das grobe Raster der Parteien angewendet wird, die alle paar Jahre behaupten, den gesellschaftlichen Meinungsbildungsprozess zu repräsentieren.

Durch die Weiterentwicklung der Query – hier natürlich vor allem im Zuge des Internets – ist der Möglichkeitsraum für die Ordnung des Archivs in’s Unermessliche gestiegen – also faktisch obsolet geworden. Die klassischen Ordnungsmächte wie die Verlage und Parteien kämpfen unter einem enormen Bedeutungsverlust. Vor allem aber leiden sie an einer drastischen Unterkomplexität – einer „Komplexitätsdiskrepanz“ – gegenüber den Möglichkeiten der Meinungsbildung im Netz (aber eben auch, gegenüber der Komplexität der Welt, der Wirtschaft usw.).

Die Krise der Institutionen und der Parteien ist eine Krise ihrer Legitimität. Niemand fühlt sich durch das grobschlächtige Raster noch hinreichend repräsentiert. Die Krise der Repräsentation ist also auch nur eine Abwandlung der Krise des Archivs.
(Ich werde eine viel ausführlichere Darlegung meiner Gedanken zu diesem Themenfeld auf der openmind 2011 vortragen.)

Fazit

Man könnte hier noch viele weitere Beispiele der Krise des Archivs formulieren. Privatsphäre und Urherberrecht wären die dankbarsten Beispiele, aber die werden ja bereits breit diskutiert. Schwieriger bleiben Dinge wie Eigentum oder Identität, die derzeit zweifelsohne auch in eine Krise geraten, die aber noch nicht wirklich verstanden wurde.

Aber ich denke, dass das Muster klar geworden ist. Die Query macht herrschende Ordnungsstrukturen obsolet. Sie geraten in eine Krise und stürzen sich in einen hoffnungslosen Abwehrkampf. Clay Shirky sagte einmal: Institutionen werden versuchen die Probleme zu erhalten, für die sie die Lösung sind.

Ob Leistungsschutzrecht, Internetregulierung oder Arbeitsmarktpolitik, all das sind nur die Reaktionen auf den Kontrollverlust höherer Ebene. Sie werden die Entwicklung aber nicht aufhalten, höchstens hier und da abmildern. Ich will auch gar nicht abstreiten, dass es derzeit noch sinnvoll sein kann für Datenschutz, Arbeitsplätze und Erhaltung von Verlagen und letztendlich auch für Demokratie zu kämpfen. Wir befinden uns in der Phase des Übergangs zur Queryology, doch noch tragen die Queries uns nicht, wenn die Strukturen wegfallen. Deswegen sollten wir vorsichtig sein, mit radikalen Forderungen.

Andererseits ist es Zeit zu Erkennen, dass Vollbeschäftigung, informationelle Selbstbestimmung, der institutionelle Journalismus und die repräsentative Demokratie nicht der Weisheit letzter Schluss sind und dass sie sich so oder so wohl nicht mehr lange halten lassen werden.

Grundsätzlich lässt sich das wohl für jede Ordnung sagen. Die Query wird sich früher oder später jedes Archiv einverleiben. Durch die Abstraktion der Ordnung werden Potentiale frei. Ordnung ist immer Komplexitätsreduktion und damit Informationseinengung. Die Queryology wird also, soviel ist sicher, eine Welt schaffen, die um vieles komplexer und reichhaltiger ist, als wir sie kennen. Vielleicht zu komplex und reichhaltig, als dass wir sie noch verstehen könnten. Aber vielleicht muss das ja auch nicht sein.

Wenn man das Grundparadiga – den Konflikt zwischen Archiv und stärker werdender Query – weiterskaliert, endet man dort, wo es überhaupt keine Ordnung mehr braucht. Die allmächtige Query agiert jenseits jeder für sie angelegten Ordnung, das heißt, die Welt selbst wird ihr zur transparenten Datenbank. Mit anderen Worten: der theoretische Endpunkt der Queryologie wäre der Laplacesche Dämon. Bei ihm fällt Zukunft und Vergangenheit sowie Archiv und Welt in eins.

Die Entwicklung geht jedoch zuletzt so rasend schnell, dass es schwer fällt noch irgendwelche Vorhersagen zu machen. Vielleicht kann die Queryology aber dabei helfen, die großen Linien der Veränderung zu erkennen. Denn nicht zuletzt ist die Queryology die Wissenschaft der Abfrage und damit die Zukunft selbst.

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