Die Piratenpartei ist mit einem sensationellen Erfolg in den Berliner Landtag eingezogen. Journalisten und Politiker stehen vor einem Rätsel. Ihre Deutungsversuche gehen von „Protestpartei„, „neue FDP“ bishin zur es sich bequem machenden „Einthemenpartei„. Sie versuchen gar nicht die Piraten zu verstehen, sondern nur die passende Schublade für sie zu finden. Dass die Piraten einen eigenen originären Politikansatz haben könnten, scheint niemand in Betracht zu ziehen.
Doch wenn man sich den Wahlkampf genau ansieht, dann wundert man sich, dass kaum eines der Klischees über die Piratenpartei erfüllt wird.
Wo bitte waren die Piraten eine „Einthemenpartei„? Netzpolitik kommt beispielsweise in dem Wahlprogramm der Piraten kaum vor. Außer der Forderung nach einem flächendeckenden W-Lan war dazu nicht viel zu finden. Warum auch? Netzpolitik ist schließlich nur sehr selten Ländersache.
Und auch der Rest des Programms lässt sich kaum in eine klassische politische Richtung verorten. Wäre die FDP etwa für Marihuanalegalisierung, den Fahrscheinlosen Personennahverkehr und gegen Studiengebüren? Sind besserer Zugang zu Bildung und stärkere Trennung von Staat und Kirche etwa Themen mit denen eine Protestpartei auf Stimmenfang gehen würde?
Auch die restlichen Themen der Piraten wirken für den Ottonormalwähler wie eine willkürliche Zusammenstellung von Gutmenschenforderungen: Mehr Transparenz in der Politik, Grundeinkommen, Wahlrecht für Ausländer, etc.
Doch der Schein trügt. Hinter all diesen Forderungen steckt ein System, das man nur erkennt, wenn man mit dem Internet sozialisiert wurde und die netzpolitischen Forderungen verinnerlicht hat. Um die Piraten zu verstehen, muss man sich also doch mit Netzpolitik beschäftigen.
Paradigmatisch für die Netzpolitik hat sich die letzten Jahre die Forderung nach „Netzneutralität“ erwiesen: Einige der größeren Provider wollen das Internet in eine Richtung entwickeln, die eine der grundlegenden Eigenschaften des Netzes verändern würde. Sie wollen die Daten von unterschiedlichen Diensten unterschiedlich behandeln. So könnte man die Daten von Google schneller durchleiten, als die vom Microsoft. Oder andersrum. Je nachdem wer mehr bezahlt. Da die Provider am Nadelör zwischen Endkunde und Dienst sitzen, könnten sie doppelt abkassieren: von ihren Kunden für den Internetzugang und dann noch vom Dienstanbieter, nach dem Motto: „Schöne Daten haben sie da. Wäre doch schade, wenn ihnen auf dem Weg zum Kunden etwas passiert?“
Die Piratenpartei kämpft zusammen mit der netzpoltischen Szene schon lange gegen diese Auswüchse und fordert eine diskrimierungsfreie Durchleitung der Daten durch die Provider – eben die sogenannte „Netzneutralität„.
Wenn man sich nun die Forderungen der Piratenpartei in Berlin genauer ansieht, stellt man fest, dass hier das selbe Denken dahinter steht: Infrastrukturen, die Zugang und Teilhabe ermöglichen, müssen gestärkt und ausgebaut werden und gehören diskriminierungsfrei allen angeboten.
– Fahrscheinloser ÖPNV ist die diskriminierungsfreie Beförderung von Personen, jenseits der Einkommensunterschiede.
– Die Ressource Bildung soll diskriminierungsfrei jedem zur Verfügung stehen.
– Bei dem Wahlrecht für Ausländer sollte die Sache auch klar sein.
– Das bedingungslose Grundeinkommen ist eine diskriminierungsfreie Infrastruktur zur ökonomischen Teilhabe an der Gesellschaft.
– Und auch die Forderung der konsequenteren Trennung von Kirche und Staat ist eine Netzneutralitätsforderung. Warum sollte die Infrastruktur Staat schließlich christliche Datenpakete gegenüber islamischen oder atheistischen bevorzugen dürfen?
Es ist also eigentlich ganz einfach: Die Piraten verstehen die öffentlichen Institutionen als Plattformen, die Teilhabe ermöglichen. Und auf jede dieser Plattformen fordern sie diskriminierungsfreien Zugang für alle, weil sie im Internet erfahren haben, dass sich nur so Wissen und Ideen – und damit auch Menschen – frei entfalten können.
Die Plattformneutralität steckt als abstraktes Konzept hinter allen Forderungen der Piraten, denn sie steckt tief in dem Denken eines jeden Netzbewohners. Die Plattformneutralität ist somit ein abstraktes Konzept, wie es die „Nachhaltigkeit“ für die Grünen ist. Es ist ein völlig eigenständiger Politikansatz aus dem sich für fast jeden Politikbereich Lösungen generieren lassen.
Wer die Piraten verstehen will, darf sie nicht auf Netzpolitik reduzieren, muss aber Netzpolitik verstehen. Deswegen sind die Piraten alles andere, als eine Eintagsfliege, eine neue FDP oder eine „Einthemenpartei„. Die Piraten haben ein eigenes politisches Denken, das sich aus den Erfahrungen des Netzes speist und das sehr effektiv ist. Es wird spannend sein zu sehen, wie diese Konzepte in der Realpolitik fruchten.
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